Der „Lockdown“ und seine Folgen für Patienten abseits von Covid-19

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 177

Armin Thurnher
am 09.09.2020

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Heute ist wieder der Virologe Robert Zangerle von der Uni Innsbruck am Wort.

Es geht um die nicht direkt Covid-19 betreffenden Folgen des Lockdowns.

Und was das denn überhaupt wäre, eine Lockdown.

»Die Maßnahmen gegen Covid-19 hatten auch direkte und indirekte Folgen in der Versorgung von Patienten ohne Covid-19. Am deutlichsten sah man solche Effekte während der Zeit des „Lockdown“. Damals wurden elektive (also entscheidbare) Eingriffe weitestgehend verschoben. Man rief die Bevölkerung auf, Spitalsambulanzen nur bei absoluter Notwendigkeit aufzusuchen.

Was ist ein „Lockdown“? Nirgends existiert eine klare oder allgemein akzeptierte Definition. Der Begriff taucht weder in nationalen noch internationalen Richtlinien auf. Man findet ihn auch nicht in den Richtlinien der WHO. Die Bezeichnungen „Lockdown“ und „Shutdown“ haben ihren Ursprung im amerikanischen Sprachgebrauch. Lockdown bezeichnet dabei eine polizeiliche Anordnung an Personen, ihren derzeitigen Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Die internationale Presse prägte diesen Begriff, als  Provinz Hubei in China ab dem 23. Januar 2020 unter Quarantäne gestellt wurde. Er verbreitete sich seitdem als sprachliches Surrogat für den formal korrekten Begriff der „Massenquarantäne“.

Im Neologismenwörterbuch Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie des Leibniz-Institut für Deutsche Sprache wurde der Lockdown-Zeitraum als: „Zeitraum, in dem fast alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten auf politische Anordnung hin stillgelegt sind (z. B. zum Infektionsschutz)“ definiert. Jede dieser Aktivitäten existiert jedoch in einem Spektrum, das von „drakonisch“ an einem Ende (Provinz Hubei in China, Italien, Spanien) bis „nachsichtig“ (Schweiz) am anderen Ende reicht. Im schweizerischen Sprachgebrauch wurde die von der Regierung empfohlene Schutzmaßnahme, möglichst „zu Hause zu bleiben“ in den Medien als Lockdown bezeichnet, obwohl in der Schweiz (mit einer kurzfristigen Ausnahme im Kanton Uri) nie Ausgangsbeschränkungen verfügt wurden  .

Wen wundert’s, dass der Lockdown kontrovers diskutiert wird. Österreichs Glück: Seine vielen „non-pharmaceutical interventions“ haben dem Land bis jetzt geholfen, vergleichsweise glimpflich davon gekommen zu sein. Mancher dieser „nicht-pharmazeutischen Maßnahmen“ waren offensichtlich bloß die Folge von Berichten über Krankheit und Tod durch Covid-19 in den Medien. Eine solche „freiwillige“ Verhaltensänderung schildert der Klinikdirektor der Innsbrucker Universitätsklinik für Chirurgie, Prof. Dietmar Öfner-Velano:

„Es kam an der Klinik in Innsbruck zu einem Rückgang der chirurgischen Eingriffe unmittelbar nach Bekanntwerden der ersten Fälle an Covid-19, fast drei Wochen vor Verlautbarung der Regierung zu den beschlossenen Maßnahmen. Diese Reduktion spiegelt sich vollständig in der Reduktion der Mobilität in Tirol wider. Die Binsenwahrheit, dass Korrelationen in der Medizin NICHT mit Kausalität gleich gesetzt werden dürfen, muss hier betont werden. Durch die angeordnete Restriktion der OP-Kapazität auf 40 Prozent des normalen Volumens ab KW 12, um genügend Intensivkapazitäten vorhalten zu können, mussten bereits geplante Operationen abgesagt werden. Dies betraf mit wenigen Ausnahmen Operationen, von denen angenommen werden konnte, dass daraus unmittelbar kein Nachteil für die Patienten erwachsen würde. Das heißt, es konnten in dieser Zeit knapper OP-Saalressourcen an der Chirurgie in Innsbruck bei nie voll ausgelasteten, weil adäquat vorhandenen Intensivkapazitäten fast ausnahmslos alle onkologischen Operationen und Transplantationen durchgeführt werden. Nach den Aufzeichnungen bereits terminisierter, aber verschobener Patienten sind derzeit drei Viertel der Patienten teilweise nach einem Intervall von mehr als 140 Tagen operiert worden. Es ist derzeit Gegenstand von Untersuchungen, ob daraus langfristig ein Nachteil für die Patienten erwächst und welche Gründe dazu führen, dass sich rund ein Viertel noch nicht zur Operation entschlossen haben.“

Während man in Wien mit stolzer Brust verkündet, dass der „Rückstau bei elektiven Eingriffen in Wien vorzeitig abgearbeitet“ wurde , ist in der Schweiz ein erwarteter „Aufholeffekt … bis Ende Juni nicht erkennbar“. Die Mitte-Fraktion im Schweizer Parlament hat eine Motion eingebracht (vergleichbar einem Initiativantrag im österreichischen Parlament), der Bundesrat möge unter anderem untersuchen, inwiefern durch das Corona-Behandlungsverbot unnötige Eingriffe verhindert wurden. Der Bundesrat empfiehlt die Annahme dieser Motion!

Davon abgesehen, dass in verschiedenen Regionen und verschiedenen Gesundheitssystemen unterschiedliche Beobachtungen zu erwarten sind, bleibt man nach solchen Meldungen doch ein wenig verdutzt zurück. Ähnlich erging es vielen, als Gesundheitsminister Rudolf Anschober von „verschwundenen Krankheiten“ sprach und damit zwar den zwischenzeitlichen Rückgang von 25% der Herzinfarkte mit meinte, ansonsten aber die Ansicht „nichts Genaues weiß man nicht“ vertrat. In den meisten Ländern wurde ein solcher Rückgang und Wiederanstieg an Herzinfarkten beobachtet. Eine englische Studie überraschte, weil der initiale Rückgang bereits zwei Wochen vor dem ersten Todesfall durch Covid-19 und einen Monat vor dem offiziellen Lockdown begann. Das Ausmaß des Rückgangs für den prognostisch günstigeren NSTEMI-Infarkt betrug in England 40 Prozent, in Österreich 44 Prozent, in New York 48 Prozent und in Italien 30 Prozent. Für den prognostisch ungünstigeren STEMI betrugen diese Zahlen 23 Prozent, 21 Prozent, 18 Prozent und 26 Prozent. Die Ursachen für den zeitweiligen Rückgang an Herzinfarkten bleiben offen. Es werden günstige Effekte durch weniger emotionaler Stress im Home Office, weniger Feinstaubbelastung und weniger respiratorische Infekte vermutet; dem wird der erschwerte Zugang zur medizinischen Versorgung entgegengehalten, oder das Fernbleiben aus Furcht, sich im Krankenhaus mit SARS-CoV-32 zu infizieren.

Zurückgefahren wurde auch die Vorsorge von Krebserkrankungen wie Darmspiegelungen. Hier die durchgeführten Darmspiegelungen beim niedergelassenen Chirurgen Stefan Kastner in Innsbruck, der sich an die Aufforderung von Ministerium und Ärztekammer hielt, sich dabei jedoch ständig hartnäckig bemühte, seine Tätigkeit wieder aufnehmen zu dürfen. Trotzdem herrschte vier Wochen lang praktisch Stillstand für Darmkrebsvorsorge:

Die meisten Patienten mit HIV hatten mit der Aufforderung, Spitalsambulanzen nur bei absoluter Notwendigkeit aufzusuchen, kein wirkliches Problem, weil die ununterbrochene Medikamentenversorgung auch ohne direkten Kontakt funktionierte. Fassungslos hingegen macht die Auflösung des HIV Zentrums am AKH in Wien. Dieses zukunftsträchtige Modell, die weitaus größte HIV Ambulanz Österreichs, erst 2011 eröffnet, wurde auf eine dafür völlig unangemessene Station der Hautklinik verlagert. Dringliche stationäre Aufnahmen von Patienten mit HIV gelingen aufgrund mangels Betten nicht, die Infrastruktur ist für eine zeitgemäße Ambulanz ungeeignet. Die Herstellung des bisherigen Verbundes ist in weite Ferne gerückt, von Zeit zu Zeit wird die Rückübersiedlung der Ambulanz in Aussicht gestellt. Verantwortlich dafür sind Trittbrettfahrer der COVID-19 Pandemie, die für ihre Vorteile solche „Kollateralschäden“ allzu leichtfertig in Kauf nehmen. Denn „morgen wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben“. Ich bin wirklich verwundert, dass der Aufschrei ausbleibt. Ist diese Sauerei an Aidshilfe, Patientenanwaltschaft und anderen Institutionen vorbei gegangen? Oder nehmen die das einfach hin?

Normal- aber auch Intensivstationen waren zum Zeitpunkt der höchsten Belegung Anfang April deutlich von der Auslastungsgrenze entfernt. Mit dem jetzigen Wissen, was zu tun ist (TRIQ und AHA) und den im Vergleich zum Jahresanfang  ernst zu nehmenden Vorbereitungen (Schutzausrüstung!) darf die Krankenversorgung auf keinen Fall neuerlich zurückgefahren werden. Genau so wenig wie ein Besuchsverbot in Krankenhaus und Pflegeheim akzeptiert werden darf. Selbstverständlich sollte auch sein, dass ein zweiter „Lockdown“ vermieden werden kann. Vorher schlagen wir uns aber noch über der Frage die Schädel  ein, ob wir gegen oder für einen Lockdown wären, ohne genau sagen zu können, was ein Lockdown überhaupt ist.«

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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