Auf der Suche nach der verlorenen Zitronenschnitte

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 134

Armin Thurnher
am 28.07.2020

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Von einer unglaublichen Barbarei ist zu berichten, die sich in der Falterredaktion zutrug. Shreddergate ist dagegen ein Lercherl. Ich sage das nicht leichthin, weil der Verdacht besteht, dass der Chefrechercheur des Falter direkt in den Skandal involviert ist.

Es ging um Manner-Zitronenschnitten, und dabei fiel manches unbedachte Wort, Generationen- und Geschlechterbeziehungen wurden strapaziert, Vertrauensverhältnisse zu Untergebenen mit Füßen getreten, und es kam zu ebenso ungebetenen wie unhaltbaren Geschmacksurteilen, die so weit gingen, dass sich auf dem Kurznachrichtendienst welche nicht entblödeten, einfachen Ekellauten Raum zu geben: Wäh! Und das über die Zitronenschnitte!

Es lebe der sommerliche Sonderfall der Neapolitanerschnitte!

Am Abend des Tages, an dessen strahlendem Morgen Sie diese Zeilen lesen, wird der Sachverhalt geklärt sein, der Hahn wird viermal gekräht, und der Missetäter wird ein Bekenntnis ablegt haben. Ich aber bin keiner dieser Vorgreifer, dieser Ich-weiß-nicht-nur-alles-besser-ich-weiß-es-auch-schneller-Typen, nein ich kann warten und warten lassen.

Was war geschehen? Redakteur Lukas Matzinger, ein Mann von ebenso hoher Seriosität wie von starker Affinität zur volksnahen, industriell gefertigten Mehlspeise, hatte einen Sack Manner-Zitronenschnitten erworben, diesen angebrochen, ordnungsgemäß wieder verschlossen, aber unvorsichtigerweise in der Redaktion zurückgelassen. Der mutmaßliche Täter ergriff den Sack, fischte ein paar Schnitten heraus und – Höchststrafe! – verschloss ihn nicht wieder, obwohl die Firma Manner zu diesem Zweck ein äußerst praktisches Wiederverschlusssystem vorsieht.

Die Schnitten taten, was sie mussten, sie nahmen der Umgebung Feuchtigkeit, verloren ihre knackige Frische, wurden lahm und labrig. Totalentwertung des Sackes. Schlimmer, als wäre er gar nicht da: er war da, aber der Inhalt war kaum noch genießbar.

Wie immer verfehlte die folgende Debatte den moralischen Kern der Sache. Mundraub und anschließende missbräuchliche Nichtschließung des Sackes sind selbstverständlich aufs Schärfste zu verurteilen. Das daran nicht interessierte Publikum aber unterhielt sich nur über die Frage „Zitronenschnitte, ja oder nein?“

Ich entsann mich erst mit Verzögerung einer vor fast genau sieben Jahren unter dem Titel „ Bitte, bitte, noch eine Zitronenschnitte!“ verfassten sogenannten Enthusiasmuskolumne. Damals ( Falter 37/2013 ) schrieb ich unter dem Titel „Bester Schnittenverwahrungssack der Welt der Woche“:

„Wonach sehnt sich der Österreicher im Ausland? Vielleicht nach Leberkäse (Tendenz abnehmend). Möglicherweise nach Hochquellwasser. Sicher nach Mannerschnitten. Die leckeren Neapolitaner gehören ins kulinarische Sehnsuchtsgepäck.

Einen sommerlichen Sonderfall der Mannerschnitte stellt die Zitronenschnitte dar. Sie wollen wir hier preisen! An heißen Tagen schmilzt die feine Zitronencreme weniger schnell als die Haselnuss-oder Schokoladenfülle der klassischen Neapolitaner. Sie erfrischt nicht, aber sie klingelt zitronig am Gaumen. Im kühlen Herbst klingt dort der Sommer nach.

Mag Waffelanfängern der Hell-dunkel-Farbkontrast von Waffel und Haselnussfüllung fehlen, so erfreuen sich Zitronenanhänger gerade am bleichen Ton-in-Ton der fünf hellen Waffelschichten und der vier Schichten weißlicher Zitronencreme. „Fruchtig-frisch“ nennt sie der Hersteller, wir sagen, von angenehmer Zitrussüße.

Dahin die Himbeer-, Mandarinen- und Orangenschnitten vergangener Tage. Allein die Zitronenschnitte erinnert an diese verflossene Fruchtschnittenvielfalt und hält sich in einer erbarmungslosen Mannerwelt (Machismo minus Umlaut!) voller Vollkornschnitten, Törtchen, Würfel, Cubidoos und Sticks. Wir loben aber nicht nur die Schnitte in den klassischen Dimensionen 17 × 17 × 49 Millimeter, wir loben den 400-Gramm-Sack. Zitronengelb leuchtet er aus dem Supermarktregal, von entschlossenem, aber nicht aufdringlichem Design.

Die Normpackung Mannerschnitten folgt ja dem Prinzip, dass Wohlgeschmack erst durch Verknappung des Angebots entstehe, heißt: In einer Packung sind stets zu wenig Schnitten. Dem Mangel hilft der Sack ab: Schnitten satt! Mehr, als man auf einmal essen kann, deswegen auch der praktische Wiederverschlusskleber. Immer wieder Zitronenschnitte!“

Dem füge ich hinzu, dass mein Enthusiasmus für den Sack nachgelassen hat; nicht nur des Schnitten-Gates wegen, das einem in der Falter Redaktion immer droht. „Zitronenmanner sollte man niemals in Säcken konsumieren, sondern stets in Päckchenform“ twitterte ich deshalb gestern, in aller Apodiktik, zu der einen kurznachrichtendienstlicher Sofortismus verleitet, meiner einstigen Waffel-Position spottend.

Es ist aber wahr: Das Aufreißen des Päckchens untermauert die Frischegarantie gleich viermal, wenn man den Viererpack nimmt, wie ihn der Supermarkt vorschreibt. Da kann der Wiederverschluss doch nicht mit.

Nachtragen möchte ich, dass die Zitronenschnitte gerade auch dem kindlichen Genusserlebnis entgegenkommt. Man zerlege sie mit Fingern oder vorzugsweise mit Zähnen vorsichtig in ihre einzelnen Waffelschichten, die dabei nicht zerbrechen dürfen, was mikadogleiche Geschicklichkeit verlangt, und nage dann (bei größerer Hitze kann das ins Schlecken übergehen) zärtlich die Zitronencremeschicht ab: das verlängert die Genusszeit und multipliziert die Lust an jeder einzelnen Schnitte mit vier!

Die Zitronenschnitte ist das wiedergefundene Glück eines Kindersommers, die kantige Madeleine des schwammigen österreichischen Wesens, die kulinarische Volksausgabe aller zitrusfruchtigen „Kennst-du-das-Land“-Sehnsüchte, die mild vom blauen Himmel wehn. Dir, Manner, gebührt der Lorbeer dafür!

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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