Corona-Kontaktsuche, Polizei und Sozialstaat

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 121

Armin Thurnher
am 15.07.2020

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Heute Teil 2 der virologenseitigen Erklärungen. Robert Zangerle, der Virologe meines Vertrauens, macht wenig aus sich und verbietet mir bekanntlich, ihn zu loben, bei sonstiger angedrohter Informationsflussunterbindung. Also lasse ich nur unauffällig einfließen, dass er seit seinem Standard-Interview alle Medienkontakte eingestellt hat, bis auf den mit der New York Times, die ihn kürzlich befragte, und den mit mir. Ich weiß aber eh, was ich an ihm habe, und denke, auch Sie können sie sich freuen!

Selbst wenn es etwas sachlicher wird, vielleicht manchmal sogar trockener, dürfen Sie nicht glauben, dem Virologen entgehe das. Diese Ausführungen zum „Contanct tracing“, schickt er voraus, seien eine „Mischung aus Mansplaining und Gerhard Polts Sandkuchen“– vielleicht, weil Kontaktsuche eine trockene Sache ist, oder weil es heute einen Hauch länger wird. Am Ende findet der Virologe in Bezug auf die Mitwirkung der Polizei deutliche Worte. Aber lassen wir ihn endlich selbst ans Wort:

»Zur Kontaktsuche, dem „Contact Tracing“, dem Rückverfolgen, im Entwurf zum Ampelsystem „Quellensuche“ genannt: Eine wichtige Strategie zur Eindämmung der Epidemie besteht darin, Personen, die Kontakt mit Infizierten hatten, zu testen und nach Art und Dauer des Kontaktes unter Quarantäne zu stellen. Wird jemand positiv getestet, so müssen alle Personen identifiziert werden, mit denen er oder sie während mehr als 15 Minuten und in einer Distanz von unter zwei Metern in Kontakt war (= Kategorie I Kontakt).

Diesen Personen hat die Bezirksverwaltungsbehörde einen Absonderungsbescheid erlassen. Es gibt zwei Möglichkeiten, nach Personen zu suchen, die in engem Kontakt mit einer positiv getesteten Person standen. Die erste basiert auf Befragungen (klassisches Contact Tracing); sie ist obligatorisch und gesetzlich vorgesehen. Die zweite, die digitale Suche nach Kontaktpersonen mittels einer App (digitales Contact Tracing) ist freiwillig.

Menschen können bis zu drei Tagen vor dem Auftreten von Symptomen (Fieber, Husten, Kurzatmigkeit) ansteckend sein. Darüber hinaus scheint ungefähr die Hälfte der Übertragungen auf Virusträger ohne, oder häufiger, noch ohne Symptome (das wird als präsymptomatisch bezeichnet) zurückzugehen. Deshalb ist es wichtig, rasch zu handeln und selbst symptomfreie Kontaktpersonen unter Quarantäne zu stellen, da ein negativer Test eine Infektion nicht vollständig ausschließt.

Nötig ist die Beteiligung der Bevölkerung: Sie muss bereit sein, sich testen zu lassen, sie muss bei der Rückverfolgung von Infektionsketten kooperieren und Quarantänemaßnahmen akzeptieren. Dieser Ansatz setzt altruistisches Verhalten voraus: Die Teilnehmenden schützen nicht primär sich selbst, sondern andere. Um ein hohes Maß an Beteiligung zu erreichen, ist es deshalb wichtig, die Bevölkerung vor negativen Auswirkungen zu schützen. Also müssen die Tests, die Teil der Screening-Kampagne sind, gratis sein.

Um dem Virus zuvorzukommen, ist der ergänzende Einsatz einer App unerlässlich, die alle Kontakte einer infizierten Person identifiziert und benachrichtigt. Die in der Schweiz entwickelte Lösung setzt auf einen anonymen, dezentralen Ansatz ohne GPS-Daten.

Für Menschen in Quarantäne müssen rechtliche und wirtschaftliche Schutzvorkehrungen getroffen werden. Ist Home-Office nicht möglich, sollten die Arbeitgeber, wie heute im Fall von Militärdienst und Mutterschaft, eine Verdienstausfallentschädigung beantragen dürfen. Selbständige und Menschen ohne Einkommen sollten von Unterstützungsmaßnahmen profitieren, wie sie während des Lockdowns eingeführt wurden. In Einzelfällen mag es vorkommen, dass jemand missbräuchlich einen Weg findet, sich unter Quarantäne stellen zu lassen. Im Allgemeinen wird das Risiko viel eher sein, dass sich nicht genügend Menschen in die Quarantäne begeben. Finanzielle Entschädigungen sollten von der Einhaltung der Quarantäneregeln abhängig gemacht werden.

Die dazu notwendige Überwachung (zum Beispiel per Telefon), wird es zudem ermöglichen, den Kontakt aufrechtzuhalten und die Personen moralisch zu unterstützen. Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist für die Wirksamkeit der TRIQ-Strategie ( Testen, Rückverfolgen = Contact Tracing, Isolieren, Quarantäne) von großer Bedeutung. Nicht-monetäre Anreize spielen für die Motivation eine große Rolle. Die Motivation war zu Beginn der Epidemie sehr hoch, durch die allmähliche Lockerung der Maßnahmen und den Eindruck, dass das Schlimmste nun hinter uns liege, könnte sie untergraben werden. Die Behörden werden daher immer wieder betonen müssen, dass die Quarantäne einen staatsbürgerlichen Akt darstellt, dessen Ziel es ist, die Mitmenschen zu schützen.

Erinnerungsverzerrung (auch Erinnerungseffekt, englisch recall bias) bezeichnet im Sinne einer kognitiven Verzerrung eine Fehlerquelle vor allem in retrospektiven Studien. Gemeint sind Verzerrungen, die dadurch entstehen, dass die Probanden sich nicht mehr korrekt an Begebenheiten erinnern oder Begebenheiten im Nachhinein mehr oder weniger Bedeutung als ursprünglich zumessen. Recall Bias ist in Österreich auf politischem Gebiet ziemlich bekannt .  Erinnerungsverzerrung muss natürlich auch beim Contact Tracing berücksichtigt werden.

Der Nationalrat hat vergangene Woche Paragraph des 28 des Epidemiegesetzes geändert, dort steht nun der „§ 28a. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben die nach diesem Bundesgesetz zuständigen Behörden und Organe über deren Ersuchen bei der Ausübung ihrer gemäß den §§ 5, 6, 7, 15, 17, 22 und 24 beschriebenen Aufgaben bzw. zur Durchsetzung der vorgesehenen Maßnahmen erforderlichenfalls unter Anwendung von Zwangsmitteln zu unterstützen.“

Eine der Maßnahmen ist auch eine Bereitstellung eines Contact-Tracing-Teams durch den Bund. Laut Kanzler Sebastian Kurz werden 300 Soldaten und 500 Polizisten, also insgesamt 800 Personen, zusätzlich zur Verfügung stehen, um die lokalen Gesundheitsbehörden zu unterstützen. Zum Teil passiert dies bereits jetzt. Die 800 Bundesbediensteten werden dazu auch eine Ausbildung vom Gesundheitsministerium erhalten.

Innenminister Karl Nehammer: „Gesehen, wie schnell es gehen kann“

Foto @ apa Fohringer

Die Befugnisse der Polizei wurden im Nationalrat insofern erweitert, als Polizisten auch beim Contact tracing nach Krankheitssymptomen fragen dürfen. Dies wurde von der Opposition heftig kritisiert, die Bundesregierung verteidigt aber das Vorhaben. Bisher hätten sich Polizei und Gesundheitsbehörden die Aufgaben gut aufteilen können, sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), „aber wir haben in Oberösterreich gesehen, wie schnell es gehen kann. Es braucht ein rasches Zusammenwirken der Behörden.“

Was ist davon zu halten? Ich habe nichts dagegen, dass Polizisten und Soldaten bei der Kontaktsuche „mitwirken“. Trotzdem muss diese Initiative der Bundesregierung als „Im Zweifel Mehr Polizei- als Sozialstaat“ gesehen werden, weil die dringlich notwendige Verbesserung der Strukturen der öffentlichen Gesundheit (AGES, Bezirksverwaltungsbehörden, Gesundheitsämter u.a.) und auch von Institutionen wie Statistik Austria (Todesursachen) in der durchaus hitzigen Diskussion um die Befugnisse der Polizei völlig unter geht.

Diese Institutionen wurden schon über Jahre in ihrer Funktionstauglichkeit eingeschränkt („kaputtgespart“ oder Objekt von Umfärbungsversuchen), und statt nun überlebenswichtige Korrekturen dieses fatalen Prozesses einzuleiten, greift man nach Kurz’ Vorbild Netanjahu auf Polizei und Heer zurück. Boris Johnson wählte die neoliberale Alternative und privatisierte große Teile des Contact Tracing. Die „Corona App“ Österreichs, im Vergleich zu jener der sozialistischen Schweiz, kommt natürlich nicht von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen.«

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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