Toleranz oder Sense? Alternativen auf dem Lande.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 117

Armin Thurnher
am 11.07.2020

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Gewitter, kein Internet auf dem Lande. In Kolumne 1 hatte ich aus Erfahrung gebangt, der digitale Faden würde mir abgeschnitten. Jetzt ist es wieder einmal so weit. Kein Twitter, kein Netz, auch nicht übers Smartphone, keine Rücktrittsaufforderung gegen Sobotka, ich schnitze sie in die Tischplatte: Nr. 27, Samstag. Sams net aso. Gehns, Herr Sobotka. Treten Sie zurück!

Wobei ich die Beobachtung mache, je sprachlich feiner ziseliert die Dinger daherkommen, desto weniger Menschen schließen sich ihnen an. Eine Beschimpfung ginge am besten, aber das verweigere ich aus prinzipiellen Gründen. Meine Höflichkeit ist nicht chinesisch wie jene Walter Benjamins, ich bin ja nicht Walter Benjamin, aber sie ist konventionell-bürgerlich.

Wobei bürgerliche Höflichkeit eine Contradictio in adjecto sein könnte. Wer hat die Ohren, sie zu hören? Kürzlich habe ich mir Norbert Elias’ monumentales Werk „Über den Prozess der Zivilsation“ in der Erstausgabe gegönnt. Affektdämpfung, Leute! Und Zivilisation als Wellenbewegung, bei der wir, die wir die Welt mit unserem gedämpften Benehmen prägten, wieder einmal stürzen, donnernd von der Schaumkrone des Wellenkamms in den Strudel hinab, aus dem sich neue Wellen erheben.

Distanzierte Höflichkeit versucht, der aus uns ausbrechenden – nicht über uns hereinbrechenden – Barbarei entgegenzutreten. Lässt man sich zum Zorn provozieren, hat man schon verloren, zumindest sich, die Kontrolle über sich. Wenn ich die Kontrolle über mich verliere, dann bei angenehmeren Dingen.

Zum Beispiel hörte ich im Radio gerade Peter Schreier bei seinem letzten Auftritt bei der Schubertiade in Schwarzenberg, Schuberts „Abschied“ singend, mit András Schiff am Klavier; im Publikum saß Elisabeth Schwarzkopf, berichtete die Moderatorin. Beim letzten Ade, wem würde da nicht eine Träne über die Wange rollen? Mir jedenfalls, mehr als eine.

Peter Schreier gab einmal eine gute Antwort auf die Frage, ob er ein gläubiger Mensch sei. Er sagte: „Ich glaube an Johann Sebastian Bach.“ Wer ohne nachzusehen die Nummer der Kolumne nennen kann, in der ich dieses Zitat schon einmal brachte, darf sich etwas gönnen. Ich glaube übrigens auch an Wunder, zum Beispiel an Schubert.

Ob der in Harper’s Magazine erschienene Aufruf amerikanischer Intellektueller gegen die neue Kultur der Zensur, Unhöflichkeit, des Verbietens und Untersagens, dieser, wie das Matt Taibbi schön ausdrückte, „schrittschnüffelnden Suche nach Leichen im Keller“ der Woke-Kultur, die uns mit Anstandskomitees und moralischen Säuberungsinstanzen beglückt, für deren Darstellung sich spätere Cineasten bereits die Ästhetik von Post-DDR-Filmen zurechtlegen können, ob dieser Aufruf bei uns schon erschienen ist, kann ich nicht sagen, da ich ja vom Netz abgeschnitten bin.

Im Radio habe ich einmal davon gehört. Bezeichnenderweise wurde dabei hervorgehoben, dass ihn auch Daniel Kehlmann unterschrieben hat. Linienrichterpatriotismus, immer wieder. Der New York Times wiederum war wichtig zu betonen, der Initiator war schwarz, auch einige der Unterzeichner waren nicht-weiß. Manchmal denke ich, wäre ich ein nichtweißes sexuell binäres oder multipolares (sagt man das?) Wesen schwarzer Haut von der, sagen wir, kirgisisch-usbekischen Grenze, könnte ich vielleicht mit mehr Aufmerksamkeit für meine Lyrik rechnen. Ach was, alter Trottel! Schreib einfach bessere Gedichte.

Der Brief der Intellektuellen ist nichts anderes als die verzweifelte Bitte, eine wesentliche Grundlage der Aufklärung, die Toleranz, nicht aus den Augen zu verlieren. Er wird in unserer Zeitungen erscheinen, also in der FAZ, der Süddeutschen oder der NZZ, was wir halt so als „unsere Zeitungen“ betrachten. Ich hätte ihn gern für Sie übersetzt, bin aber zu faul, da ohne Google Translator (das Netz!) die Sache zu lange dauern würde.

Der Appell richtet sich gegen die Tendenz der Woke-Kultur, andere mit geballter Schrillmacht des Protests zum Schweigen zu bringen oder gleich aus ihren Positionen zu verjagen. Kurz, gegen die Zerstörung des öffentlichen Gesprächs, die ja auch in dieser Kolumne ständiges Thema ist.

Auch Noam Chomsky hat übrigens den Aufruf unterzeichnet. Der hat mir kürzlich – das ist schon die dritte Selbstreferenz in einer Kolumne, und das ohne Netz! – einen kleinen Shitstorm einer Nahostbeobachtungsorganisation eingetragen, weil ich es wagte, seine These zustimmend zu zitieren. Er behauptete, die Republikaner seien die gefährlichste Organisation der Weltgeschichte, weil ihre Weigerung, in höchster Gefahr bei knapper Zeit gegen die Klimakrise etwas zu unternehmen, die Grundlagen des Überlebens der gesamten Menschheit in Frage stelle.

Dagegen wandte die Nahostbeobachtungsorganisation (es handelte sich nicht um die Volksfront von Palästina!) ein, ob ich nicht wisse, dass Chomsky Holocaustleugner verstehe, ja schätze? Dass er Diktatoren und terroristische Organisationen lobe? Chomsky (auch das hatte ich erwähnt) nimmt eine Reihe diskutabler Haltungen ein, die aber nichts mit der zitierten Aussage zu tun haben.

Völlig egal. Die wollten die Person Chomsky, den linken Kritiker, als ganze aus dem Diskurs eliminieren und auch jene Person, die es wagt, ihn zu zitieren, nämlich mich. Als es eskalierte, und ich bereits die Vorstufe zum Holocaustleugner und Neonazi erreicht hatte (sie nannten mich „Verteidiger von Holocaustleugner-Verstehern“), schritt mein Anwalt ein. Wer will, kann die üble Sache – bis auf die eliminierten Tweets – auf Twitter nachlesen.

Meine Sense, mit schönem slowenischem Holzgriff.

Intoleranz ist also kein Privileg der Linken. Intoleranz ist nicht die einzige, aber eine große Gefahr dieser Tage. Toleranz wäre das Wort der Stunde. Dazu vielleicht demnächst mehr. Oder auch zum wichtigen Thema Mähen mit der Sense.

Das Netz funktioniert übrigens wieder. Sonst könnten Sie das nicht gelesen haben.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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