Aufwachen!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 110

Armin Thurnher
am 04.07.2020

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Ich nehme es wörtlich. Gern höre ich dabei den Rest der Klassiknacht oder den Anfang der Sendung Guten Morgen Österreich, dankenswerterweise ganz und gar der Ironie verschlossene Reservate der Musik, meistens der sogenannten klassischen, auf Ö1. Manchmal tun die Moderatorinnen wohl, manchmal tun sie weh. Wohl tut es manchmal, wenn sie wehtun.

Zum Beispiel wenn jene Moderatorin, deren italienischer, französischer oder englischer Akzent italienischer, französischer oder englischer klingt als das Italienisch, Französisch oder Englisch aller Native Speakers dieser Nationen, und nur übertroffen wird von ihrer aufgekratzten Munterkeit, die im Dämmerzustand der Frühe ins Bewusstsein fährt wie lackierter, spitzer Fingernagel, wenn diese Moderatorin den italienischen Ort Pesaro erwähnt, der, wie ich zufällig weiß, weil dort ein wichtiges Filmfestival stattfindet, auf der ersten Silbe betont wird, und ihn im ganzen selbstsicheren Frohgefühl ihrer aufgesetzten Italianità als „Pesáro“ ausspricht.

Oder jeder expertensatt klingende, ebenfalls grundsympathische Kerl, den ich mir als eine Art junghofrätliche Autorität vorstelle, einen Filzmaier der Musik, kündigt Domenico Scarlatti als den „König der Klaviersonate“ an, um dann ein Presto aus einer solchen Sonate anzusagen – als wären die nicht allesamt einsätzig. Und dann macht er aus „halb sieben“ „halb acht“ …

So schnell fällt man vom hohen Ross, und ich, der ich noch immer niedrig liege, nämlich flach im Bett, fröne dem Lieblingsfrühsport der hämischen Heimischen, der sich durch den Tag und durch die Nacht zieht, bis es wieder „Guten Morgen, Österreich!“ heißt: Wir erfreuen uns am Unglück Fremder. Die Fehler der einen sind das Glück der anderen.

Wirklich? Nein, so boshaft kann niemand sein. Gleich gehe ich zum Computer und setze mich an meine tägliche selbstgestellte Seuchenaufgabe. Die Seuche gibt nicht auf, und wenn sie es endlich tut, entstehen neue an ihrer statt, da bin ich mir sicher. Ganz offenbar grassiert ein Virus, das am Ende einer in unseren Breitengraden langen friedlichen Periode voller Wohlstand die Herzen und Hirne der Menschen so verwirrt, dass sie es darauf anlegen, die beste Gesellschaftsform, die wir bisher hatten, zu zerstören und sie durch eine  schlechtere zu ersetzen. Das ist die im Untertitel dieser Kolumne angesprochene Vervirung, natürlich nur eine Metapher der Verwirrung. Seuche als Existenzform.

Diese Verwirrung hat viele Ursachen, keine davon ist einem exotischen Fleischmarkt entsprungen, allesamt sind sie menschengemacht, aber so gut oder so raffiniert, dass sie nicht mehr durchschaut werden. Darüber wird noch manches zu sagen sein, manches habe ich schon zu sagen versucht, aber ich halte mich heute von meinen Lieblingsthemen fern und frage mich, ob es die Verwirrung daran liegen kann, dass wir uns zu wenig Zeit nehmen, richtig zu leben, oder ob wir uns dafür zu wenig Zeit nehmen, weil wir verwirrt sind?

Richtig Aufstehen zu Beispiel. Das tägliche Anfangen dieses Lebens. Mir hilft neuerdings diese Kolumne. Allerdings gebe ich zu, nie wäre ich auf die Idee gekommen, meinen Tag ritualisiert zu beginnen, hätte ich nicht vor einigen Jahren einen Bandscheibenvorfall gehabt. Ich kam ohne Operation davon, die Physiotherapeutin zeigt mir ein paar Übungen, die seither ich in der Früh mache; unterlasse ich sie, überreicht mir der Schmerz die Quittung. Da ich gestern ein paar Festmeter Holz auf 25-cm Stücke schnitt (der nächste Winter kommt bestimmt) und aufschichtete, musste das Kreuz heute morgen besonders aufmerksam behandelt werden. Es geht, danke. Jedenfalls hat mich dieses kleine, mit Ö1-Hören verknüpfte Ritual der Rückengymnastik für das Morgenritual des Kolumnenschreibens vorbereitet.

Arbeit eines Tages (Ausschnitt), samt Werkzeug

Bis jetzt hatte ich Glück, denn das Wetter ließ Arbeiten untertags zu. Jetzt, da es heiß wird, kann ich mit der Sense nur in der Früh mähen, bis Acht, halb Neun, ich werde die Kolumne also vorschreiben oder nachschreiben müssen.

Das Leben auf dem Land hat eben seine Abläufe; im Winter, der im Waldviertel etwas länger dauert, obwohl er nicht mehr so streng ist wie noch vor 20, 30 Jahren, heize ich drei Holzöfen; das geht, falls nicht ein Sturm das Anfeuern unterbindet, in zwanzig Minuten. In der Stadt, wo man es sich nicht selber warm zu machen braucht, dafür weder Gewicht schleppt noch beim Fenster hinausschaut, wie der Wind bläst, beginnt der Tag akzentärmer.

Man kann natürlich immer das schönste Ritual zum Tagesbeginn ansetzen, indem man es macht wie der legendäre Cellist Pablo Casals, der Bachs Cellosonaten wiederentdeckte und wegen des faschistischen Franco-Spanien ins Exil ging. Er spielte angeblich jeden Tag zuerst eine Invention von Johann Sebastian Bach am Klavier, sozusagen als Morgengebet eines Atheisten. Wer es nicht selber spielen kann, lässt es sich halt von Till Fellner auf CD vorbeten.

Wie auch immer, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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