Abschied ohne Händeschütteln

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 99

Armin Thurnher
am 23.06.2020

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Wieder hat sich ein Mitmitglied der Risikogruppe verabschiedet. Gestern vermisste ich es wirklich schmerzlich, Hände schütteln zu können. Ich war an einem Ort, den ich lieber meide, an den ich aber in den letzten Jahren immer öfter hingerufen werde. In der Feuerhalle in Wien Simmering, Teil des Wiener Zentralfriedhofs, Ort für Verabschiedungen. Wenigstens musste ich diesmal nicht sprechen, als wieder einmal einem lieben Freund die letzte Ehre gegeben wurde.

Jürgen W. Weil, Foto © Irena Rosc

Jürgen W. Weil war ein Besonderer. Theoretischer Physiker von Beruf, bei der Atombehörde der Vereinten Nationen, aber auch Orientalist, bis zuletzt Privatdozent für Arabistik. 2015 notierte er: „Ich lese Hesiods ,Theogonie‘, die 4. Sure des Korans (über die Frauen), Akutagawa ,Yabo no naka‘ und die Memoiren eines marischen Philologen, alles im Original – und bin unendlich traurig! Wozu? – Dabei fällt mir der alte Richard Strauß ein, der seinen Musikern sagt, wie schön es wäre, wenn sie im Grab weitermusizieren könnten.“

Ich weiß nicht, was ein marischer Philologe ist, vielleicht sollte es heißen „maurisch“, aber ich glaube Jürgen aufs Wort. Auch wenn der Gute zur lustvollen Übertreibung neigte und in Aufsätzen schon einmal ein eigenes Gedicht als Übersetzung aus Hafis ausgab (niemand merkte es), war er unfassbar sprachenkundig. Von Latein, Griechisch und den europäischen Selbstverständlichkeiten angefangen, sprach er unter anderem persisch, türkisch, arabisch, russisch, japanisch, finnisch. Ja, der Fennistik ergab er sich leidenschaftlich!

Darüber hinaus war Jürgen ein Tier- und Menschenfreund; er bewohnte mit Frau Eva und deren Schwester Christl den alten Pfarrhof in unserem Dorf, wo er Hunde aus dem Wiener Tierasyl holte und Pferden das Gnadenbrot gab.

Wir waren Nachbarn, und ein-, zweimal hielt er bei uns bei einer Veranstaltung eine Rede oder er las aus seinen Schriften. Er war Schriftsteller, ein witziger dazu, als Redner (frei natürlich) glänzend, als Vortragender einnehmend. Er las Geschichten über das Leben der Dorfbewohner, man sah einige beim Begräbnis weinen. Er war nicht nur neugierig, er nahm Anteil an allen Menschen, der Jürgen. Er war so gescheit, dass ihm niemand zu blöd war.

Einer seiner Asylköter, die er abgöttisch liebte, biss einmal unserem Cato die Schnauze blutig, weil dieser wiederum, ein von der Dorfbevölkerung so genannter „Weiberhund“, sich bemüßigt fühlte, seinen schwulen Spielkameraden, einen verlausten Collie namens Baxter zu verteidigen, obwohl ihn Lucky, Weils Hund mit den zwei verschiedenfarbigen Augen, gar nicht angegriffen hatte.

So ein Vorfall konnte unser Verhältnis in keiner Weise trüben. Was mich betrübte, war, dass ich, der seine Bildung, seinen Intellekt und seinen Witz bewunderte, ihm als Schriftsteller nicht helfen konnte, obwohl ich doch offenbar in der Position dazu gewesen wäre. Da war einer, der öffentlich gnadenlos nicht erkannt wurde. Im Spectrum der Presse hatte er in grauer Vorzeit eine Kolumne, man müsste in die Nationalbibliothek gehen. Alle zwei Wochen schrieb er dort Beobachtungen „eines im Gebüsch Sitzenden“, aber die Presse hat ihn schon lang vergessen.

Er schrieb viel, nach jedem Sommer gab es ein Büchlein bei Berger/Horn (viele sind noch erhältlich) oder ein im Copyshop gebundes Konvolut, immer mit Widmung. Jürgen Weil war zu produktiv und ungeduldig für einen Lektor, schon gar für die Pflege einer Clique; er war an Gedanken zum forteilenden Leben interessiert, daran, Literatur zu schreiben, nicht daran, im Betrieb zu landen. Zugleich wäre er gern als der erkannt worden, der er war. Das scheiterte an kultureller Inkompatibilität; vielleicht auch an unserer eigenen kulturellen Enge. Obwohl er den Falter liebte, konnte er dort kein Autor sein.

Der Autor in Erwartung der Totenfeier

Foto © Irena Rosc

Immerhin brachte der Standard noch 2014 einen Text von ihm über ein Buch des von ihm hochverehrten theoretischen Physikers Walter Thirring (ich glaube, es war sein Doktorvater), in dem auch klar wird, dass Jürgen ein religiöser, aber kein dogmatischer Mensch war. Er verkehrte mit Geistlichen, aber mit solchen vom Typus Caritas und Ausländerfreund. Der Priester, der die Verabschiedung zelebrierte, tat dies auf eine angenehme Weise, die auf Sympathie und Freundschaft mit dem Toten schließen ließ. Das brachte er zum Ausdruck, indem er in der Predigt einen Schüttelreim eigener Machart präsentierte (Jürgen produzierte solche am Fließband): „Siehst du einen Hund graben / wird er einen Grund haben.“ So etwas habe ich von einem Priester am offenen Grab noch nicht gehört, es passte aber bestens.

Wie schrieb Jürgen? Hier ist die kleine Glosse „Überall Bettler“:

„Man wird doch noch betteln dürfen.– Natürlich sind sie manchmal lästig, das muss man hinnehmen, das ist eine leichte Strafe dafür, dass man kein Bettler ist. Dass sie einer Organisation angehören und das Erbettelte abliefern müssen, weil sie sonst geschlagen würden, ist kein Argument dafür, ihnen nichts zu geben, im Gegenteil! Fromme Juden sollen laut Talmud etwa 10 % ihres Vermögens für Benefiz-Zwecke bereit halten. Na also!“

Jürgen Weil war ein Mann von geistiger Großzügigkeit. An seiner eigenen Erscheinung wenig interessiert, verschenkte er seine Ideen, Erinnerungen, Aphorismen, Essays, Satiren, Gedichte, Dramolette. Während er den Pferdestall ausmistete, fielen ihm schon die nächsten ein. Er wurde 81 Jahre alt. Adieu, Jürgen.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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