Beinharte Transparenz. Zur Desinformations-Pandemie

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 84

Armin Thurnher
am 08.06.2020

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Gestern ging der Weltuntergang knapp an mir vorbei. Waldviertel ist nicht Waldviertel. Vor dem Gewitter ist vor dem Untergang der Welt, möglicherweise. Der Himmel holt Luft, Stille, unheilvolles Licht, meist gelblichfahl, dann ein paar Tropfen, ein splitternder Blitz, krachender Donner, der Wind prüft die Wurzeln der großen Bäume und der Regen steigert Prasseln zu Peitschen. Alle Fenster geschlossen, an der Wetterfront sind sie nicht ganz dicht, bei Weltuntergang steht das Wasser zentimeterhoch im Stiegenhaus, bei knapp verfehltem Weltuntergang dringen nur ein paar Tropfen ein.

Der Fernsehen läuft, kein Baum fiel auf die Stromleitung, die digitale Verbindung funktioniert. Ob das immer ein Segen ist?

Ein Stromausfall täte mitunter gut, man könnte über den Zustand des Ganzen nachdenken. Manchmal stelle ich mir vor, wir seien von einem Desinformationskraken umschlungen. Der Krake wird mit elektrischer Energie betrieben und mit digitaler Information gefüttert. Wir kommen aus seiner Umschlingung nicht mehr heraus und schlagen zappelnd um uns. Dann schlägt der Blitz ein, der Strom fällt aus, und kraftlos sackt der Krake zu Boden.

Wir lösen uns aus seinem Griff, atmen auf und und sehen wieder klar. Was sehen wir da? An einem einzigen Sonntag?

Wir sehen den Tiroler Landeshauptmann in der Pressestunde, der vom gesinnungsfreundlichen ORF-Fragesteller, immerhin Chefredakteur dortselbst, mit Fragen halb zu Tode gestreichelt wird und vergnügt Sachen sagt wie: Wir in Tirol haben alles richtig gemacht, unser Frauenbild ist in Ordnung. Und: „Ich habe hier beinhart, habe ich meinen Willen durchgezogen und diese Wintersaison beendet.“ Danke dafür, Günther Platter!

Ich sehe Wolfgang Sobotka, den Nationalratspräsidenten und militanten Musensohn, der in zähnefletschender Bestlaune das Publikum verhöhnt und verkündet, der Untersuchungsausschuss werde das Video zu sehen bekommen, gewiss, sie werden das Video sehen, wenn alle Fragen verpasst und alle relevanten Auskunftspersonen verbraucht sind. Sie werden das Video sehen. Sie werden es sehen. Das Video!

Sobotkas parteiische Vorsitzführung im Ausschuss schließt nahtlos an seine Performance im Parlament an. Einen Nationalratspräsidenten derartigen Zuschnitts hatte die Republik noch nie. Heinz Fischer, Barbara Prammer und Doris Bures bemühten sich ernsthaft, dieser Rolle mit angemessener Neutralität gerecht zu werden, selbst Andreas Khol, der zwar Peter Westenthaler und Karl Heinz Grasser ostentativ Applaus spendete, stand wolkenhoch über Sobotka.

Der Innenminister Karl Nehammer, leider konnten wir die Szene nicht sehen, aber Zeugen berichten uns, dass er im Ibiza-Untersuchungsausschuss zehn Minuten befragt werden musste, ehe er zugab, die Existenz des Videos seiner Kollegin Zadić nicht bekanntgegeben zu haben. Warum auch? Sie ist bloß Justizministerin und leitet die Ermittlungen.

Die Justiz hat in der Demokratie nicht parteiisch, sondern neutral zu sein. Auch nicht parteilich. Dass heißt nicht unpolitisch. Jede Partei macht Justizpolitik, wie es ihrer Ausrichtung entspricht. Minister Broda führte im Sinn der SPÖ gesellschaftliche Reformen durch, das war in Ordnung; er würgte viele Verfahren ab, die Parteifreunde betrafen, das war intolerabel.

Die ÖVP beschränkt sich auf Teil zwei dieses Aufgabensplittings. Sie sieht die Sache klar: Die Staatsanwaltschaft ist schwarz, also wird sie über die Existenz des Videos informiert; die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist rot, die Ministerin ist grün, also werden beide nicht informiert.

Es sind neue Tiefpunkte, die hier erreicht werden. Der vom Kanzleramt reich bezahlte Boulevard, sonst immer bei jedem Skandal vorn dabei, genießt und schwiegt oder spielt herunter. Die Nervosität steigt, weil ein SMS-Verkehr des ÖBAG-Chefs und Kurz-Beraters Thomas Schmid mit Ex-Finanzminister Schelling bekannt wurde, in dem dieser zu Silberstein-Methoden gegen Finanzsprecher Kai-Jan-Krainer riet. „Gestern tauchten auch „Dirty-Campaining“ Hinweise mit Hans Jörg Schelling auf“, berichtet die Krone dürr am Sonntag. Falls jemand ahnte, was sie damit meinte. Es war übrigens vorgestern, nicht gestern.

Am Abend trat dann, behangen mit irritierend kleinen Ohrringen, Frau Ministerin Karoline Edtstadler auf und berichtete über ein neues, geplantes Informationsfreiheitsgesetz. Sie hatte dazu nichts zu sagen, was nicht im Koalitionsabkommen stand. Interviewer Martin Thür führte das freundlich und unmissverständlich vor, aber das war wie immer egal, denn Edtstadler trompetete „Transparenz, Transparenz, Transparenz!“, auf intransparente Weise und genau in dem Augenblick, als der Parteikrake mit aller Desinformationsmacht eine riesige türkise Tintenwolke ausstieß: kein Video, keine Fehler in Tirol, Super-Sofort-Wirtschaftshilfe, Kleinwalsertal ist Sonderfall, schuld sind andre allemal, alles für unsere Arbeitslosen, immer überall alles richtig gemacht!

Gleich zu Beginn des Edtadler-Interviews zeigte die ZiB2 Spezial dieses Inserat. Optik: türkis. Botschaft: Republik ist gleich ÖVP

Zur Krönung dieser Informations-Pandemiewelle blendete der ORF eines dieser Inserate ein, bei denen Parteiästhetik und Republikästhetik ununterscheidbar verschmelzen und bei denen man nie weiß, wer sie zahlt, Partei oder Regierung.

Da wurde mir klar: wir alle sind ÖVP. Wir sind rettungslos türkis infiziert. Die medialen Intensivstationen sind überbelegt, das journalistische Personal kämpft, aber es ist übermüdet und teilweise selbst erkrankt, und die Spätfolgen sind unabsehbar.

In Brasilien will die Lichtgestalt Jair Bolsonaro die Pandemie wegschweigen. Auch wir hätten allerhand zu besprechen. Wenn wir noch könnten.

Umso mehr: Keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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