Der Tod des Kernbeißers. Eine Parabel

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 63

Armin Thurnher
am 18.05.2020

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Nicht ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen. Mit diesem Goethesatz könnte man eine Seuchenkolumne gut eröffnen, zumal, wenn der Weißdorn überschäumend blüht, der Rotdorn ins Altrosagrau verdämmert, die Kastanien die Kerzen aufstecken und die Amseln singend die Würmer aus der frisch befeuchteten Erde holen, wie es gerade bei uns im Waldviertel geschieht.

Wäre da nicht gestern gewesen. Gestern hatte ich ein emotional herausfordendes Erlebnis. Wir waren bei Freunden zu einem Grillfest geladen, unserem ersten seit Beginn der Selbstisolation. Wir saßen im Garten und erfreuten uns an hervorragenden Hamburgern, zart und saftig gegrillt, dazu gab es gutes Schremser Bier und Weine nach Belieben, alle Beilagen, die man sich wünschen kann, Salate, ein Dutzend Grillsaucen, es war sozusagen angerichtet, danach erschien auch noch ein glänzender Rhabarberstrudel, samt Erdbeeren mit Schlag. Die Gesellschaft war nicht nur nett, sondern geistreich, man sprach in mehreren Sprachen und unterhielt sich bestens.

Die Stimmung stieg, als die Spatzen, die übermütig im Vogelhäuschen tobten, dieses so lange um- und umdrehten, bis sich eine Schraube löste und das Häuschen krachend zu Boden fiel. Großes Hallo!

Kernbeißer, männlich. Foto © Dellex

Da bemerkten wir einen vis-à-vis auf dem Brunnenrand sitzenden Vogel. Ein Kernbeißer, erklärten uns die Gastgeber. Er litte an einer Kehlkopfentzündung, vermutlich. Man sah links an seinem Hals eine kleine Geschwulst hervortreten. Er sah zu uns herüber und öffnete immer wieder den Schnabel, als wolle er singen. Spatzen setzten sich links und rechts von ihm hin und flogen wieder weg. Der Hund lief im Garten herum, sodass sich keine Katze in die Nähe des Kernbeißers wagte.

Der Kernbeißer versuchte zu fliegen, aber er kam nicht weit. Nach drei Metern landete er im Gras, und wieder blickte er zu uns herüber, öffnete den Schnabel, als wollte er uns dringend etwas sagen, vielleicht hatte er das Geheimnis entdeckt, wie die Welt funktioniert, und wenn wir ihn verstehen könnten, wüssten wir, wie sie zu heilen wäre. Im Augenblick ihres Todes, behauptete ich, sprechen Vögel nämlich solche Sachen, und wer sie verstehen kann, der wird zum Welt-Heiler, vielleicht.

Gespannt schauten wir hinüber zum Kernbeißer, aber wir konnten nichts hören und nichts von dem verstehen, was er uns sagen wollte. Angestrengt versuchte er, zu uns zu sprechen, es war, als hielte er eine Predigt, eine stumme Ansprache, es ging um Qual und Moral vielleicht, er quälte sich, und auch wir quälten uns, aber wie sehr wir uns auch bemühten, ihn zu verstehen, wie sehr er sich auch anstrengte, es uns zu sagen, es misslang. Man merkte, es ging ihm um alles, aber er brachte nichts heraus.

Immer länger wurden die Pausen zwischen seinen Versuchen. Wenn er sprechen wollte, erhob er sich ein wenig, wenn er es aufgab, fiel er ins Gras zurück. Er begann schwerer zu atmen, langsamer, dann hörte er auf, sich zu bewegen. Sein Todeskampf klappte ihm den Schnabel zu, er wendete seine Augen von uns ab, kippte auf die Seite und lag auf dem Rücken.

Er war tot.

Das war mein stärkstes Medienerlebnis gestern. Für den Rest gilt: Schweigen wäre besser gewesen.

Keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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