Mehr Ernst! Über Debatten

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 58

Armin Thurnher
am 13.05.2020

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Wenn einer versucht, auf Twitter zu debattieren, kann er was erleben. Aber er kann auch was lernen. Meine schönste Erfahrung machte ich gleich am Anfang. Es begann mit einem angeberischen lateinischen Satz, in dem ich einen Fallfehler beging. Ich schrieb „Nulla dies sine carmen“, hastig, wie man auf diesem Medium wird (die Tippfehler starren einen danach grausig an). Der höfliche Twitter-Nutzer Clemens M. Strauss fragte mich freundlich, ob „sine“ nicht den Ablativ reagiere.

Natürlich. Ich schämte mich und schrieb: „Absolut richtig, das Büro dankt für den Hinweis. Herr T. pflegt zu sagen: ,Nulla dies sine linea‘, und weil der Ablativ hier gleich aussieht wie der Nominativ, schlossen die doofen Bots daraus … Richtig ist natürlich: ,Nulla dies sine carmine!‘“

Mein Kritiker, offenbar Altphilologe, antwortete: „Und weil ich gerade beim (ironischen) Beckmessern bin: Besser wäre in diesem Begriffssinne übrigens nullus dies. Denn ,dies‘ als Zeiteinheit ist maskulin. ,Dies‘ als verkündeter Zeitpunkt ist weiblich (z.B. dies irae als Tag des jüngsten Gerichts) (*wichtigmach*).“

Wichtigmachen konnte ich mich dann auch, denn ich erinnerte mich, „nulla dies“ habe seit dem Mittelalter Sprichwortcharakter. Das wiederum nahm mein Dialogpartner erfreut zur Kenntnis und schrieb: „Haben Sie nochmals Dank für diesen geistheiteren Austausch, dessen humoristische Sympathie man hienieden, in Twitterland, selten findet. Fand übrigens noch die Miszelle die uns beiden Recht gibt!“

So schön war’s nicht immer, denn auf Twitter diskutiert man eher mit Bauklötzen, die man dem anderen oder der anderen hinknallt. Kinderspiel. Aber es geht auch anders. Meinen Virologen habe ich über einen Tweet kennengelernt, worauf wir unseren Austausch schnell auf Mails umleiteten.

Eine Debatte über Corona misslingt hier, auch eine über die SPÖ kann offenbar nicht gut auf Twitter geführt werden. Kann sie überhaupt geführt werden? Kann hier überhaupt „debattiert“ werden? Der höfliche Austausch von Argumenten ist möglich und wird mancherorts gepflegt. Die generelle Absicht ist es nicht. Man kann auch Bauklötze staunen.

Eines der wichtigsten Themen der vergangenen Tage – wenn nicht das wichtigste, denn es betrifft das Schicksal der EU – ist das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts betreffend die Zuständigkeit der europäischen Zentralbank. Mir war ein wenig mulmig, als ich gleich am Anfang auf Twitter kurz bemerkte, das Ende der EU sei damit nicht gekommen (ich hatte das auf einen Bericht aus der FAZ gestützt).

Denn schnell kam auf Twitter ein apokalyptischer Ton auf, der genau dieses Ende evozierte. Auch in der Süddeutschen Zeitung schrieb der geschätzte Heribert Prantl: „Es ist fatal, wenn von Karlsruhe das Signal ausgeht: Wir respektieren die Urteile des höchsten EU-Gerichts – aber nur solange es uns passt. Andere EU-Staaten können sich nun ermuntert fühlen, Luxemburger Entscheidungen zu missachten. Man baut Europa mit den Bürgern und ihrem Glauben daran, dass sie in Europa gut aufgehoben sind. Dieser Glaube aber schwindet so rapide, dass einem angst werden kann.“  Auch der geschätzte Kurt Bayer äußerte sich pessimistisch.

Michael Dougan, englischer Professor für Europarecht (und Brexit-Kritiker) hatte in einer schnellen Reaktion in einem Twitter-Thread auf das Urteil hingegen festgestellt, dass dieses Urteil einerseits EU-Apokalyptiker aufhusst und dass andererseits die Karlsruher Richter selbst vernachlässigten, was sie von der EZB forderten: Sorgfalt in der Abwägung der Wirkung.

„Das Problem hier ist also nicht“, folgert Dougan, „dass das Verfassungsgericht seine (langjährige) richterliche Gewalt in Bezug auf Überprüfung von EU-Maßnahmen ausgeübt hat. Das Problem ist, dass es in diesem Fall mit nicht überzeugenden Argumenten und mit offensichtlicher Unbekümmertheit für die Konsequenzen agiert.“ Mittlerweile kommen mit einer gewissen Reaktionszeit Einschätzungen an die Öffentlichkeit, die jener Dougans näherkommen. Es ist nicht das Ende der EU, schreibt auch Peter Michael Lingens im Falter . Deutschland wird seine Politik ändern müssen. Und auch die Ex-Justizministerin Maria Berger bleibt in ihrem Kommentar in der Presse cool: „Die deutsche Regierung kommt durch dieses Urteil aber in Verlegenheit, zumal sie mit einem Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission rechnen muss. Sollte dieses Verfahren beim EuGH landen, kann sich dieser noch einmal in der Sache äußern und hätte, wenn schon nicht das letzte Wort, zumindest das nächste Wort.“

Wollte nur sagen, ich rede zu viel über lächerliche Probleme, die kaum jemand interessieren, und zu wenig über solche, die uns existenziell betreffen. Andererseits: ohne ausreichend Unernst ist auch der tiefste Ernst nichts wert.

Keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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