Ticket aus Licht

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 55

Armin Thurnher
am 10.05.2020

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Wer 76 ist und Leukämie hat, gehört in strengste Isolation, denn eine Infektion wäre das Ende. Michael Krüger ist 76 und hat Leukämie. Der Spiegel veröffentlicht gerade ein großes Interview mit ihm, in dem er bedeutende Dinge auch über das Virus und die Welt sagt. Krüger ist der letzte der großen deutschen Verleger. Er leitete 27 Jahre lang den Hanser Verlag, für den er zuvor als Lektor gearbeitet hatte. Er schrieb zahlreiche Gedichtbände, Romane, Essays. Er brachte Generationen von Menschen zum Schreiben von Literatur, unter anderem mich.

Michael Krüger.

Foto @ Carl Hanser Verlag

In meinem Brendel-Roman „Der Übergänger“ habe ich Krüger das „das große Ohr“ porträtiert, zusammen mit meinem Wiener Verleger Herbert Ohrlinger, dem „kleinen Ohr“. Als Krüger in Wien das Goldene Ehrenzeichen der Stadt erhielt, durfte ich die Laudatio halten. In dieser Rede erwähnte ich die Antwort, die er mir auf meine Frage gab, wie er es schaffe, all die unglaublich vielen Dinge zu schreiben und dazu noch den anspruchsvollen Hanser-Verlag zu leiten. Er sagte lapidar: „Da muss man halt etwas früher aufstehen“.

Warum ich Ihnen das sage? Weil ich seit Monaten Krügers zuletzt erschienenen Gedichtband „Mein Europa“ mit mir herumtrage, mit der Absicht, ihn zu rezensieren. Nun ist das Genre Lyrik-Rezension nicht der einfachsten eines, aber ich habe die feste Absicht, diese Rezension zu schreiben, denn Krügers Gedichte sind großartig. Trotzdem und trotz der Prominenz des Autors blieben sie fast ohne Echo.

Großartig – so ein Urteil darf man nicht einfach so in die Welt hinausblasen, es sei denn, man ist auf Twitter. Man hat es gefälligst zu begründen. Jedes Gedicht Krügers in diesem Buch bezeichnet einen Ort, an dem sie geschrieben wurden, der sie inspiriert, den sie erinnern. Zusammen ergeben sie Krügers europäische Topografie, ins Tagebuch notiert 2017-19, zu einer Zeit, „in der das offizielle Europa den Verstand verloren hat“, wie der Autor im Nachwort kühl festhält.

Es sind Gedichte des Verfalls, mit denen sich der Autor in eine Natur rettet, die natürlich keine Rettung ist, sondern als der ganz andere Teil von uns pure Verzweiflung und pure Hoffnung. So oder so ist man verloren. Das bisschen Widersetzlichkeit dazwischen, das ist das Leben. Wer es erschreiben kann, ist ein Dichter:

Im Münsinger Wald

Am Bach, der versickert,

als sei er nicht sicher,

hier fließen zu dürfen,

sah ich mich plötzlich

an einem Schalter stehen,

und in der zitternden Hand

hielt ich ein Ticket aus Licht.

Krüger trägt seinen Körper durch dieses Europa, durch Natur, durch Jahreszeiten (Herbst und Winter gibt es zweimal), Pflanzen, Bäume, Bäche und Steine, durch Schnee und Wind, durch die Städte, die er am liebsten am frühen Morgen durchwandert. Die Vögel fragt er: „Was wollen sie von mir? / Von meinem kranken Blut, das sich nur mühsam / erneuert, von meiner geschwollenen Milz? / Von meinem Fieber, das sich rotglühend aufrichtet / in meinem Körper und dann wieder zerfällt / in eisige Kälte? Ich lösche das Licht, / damit ich tot bin für die Vögel, und schaue in das Aschgrau der Nussbäume, / die am Morgen hoffentlich wieder die Farben / annehmen dieses späten verrückten Sommers.“

Für einen, der nicht in sich hineinschauen kann, wie er dem Spiegel sagte, um die „große Schlacht zwischen den guten und bösen Blutkörperchen“ zu beobachten, „die sich zu Heeren versammelt haben und gegeneinander antreten, in einer napoleonischen Strategie, direkt aufeinander los, in der Hoffnung, dass der Gegner fällt“ hat er da ganz schön viel gesehen.

Sein Humor, seine Phantasie, seine sprachliche Kraft wachsen aus Melancholie im Angesicht des Wahnsinns. Bizarre kleine Geschichten erzählt er auf engstem Raum, kleine Bilder schafft er für die großen Vorgänge und die großen Orte:

Madrid

Im Prado begrüßte mich

Goyas Hund,

er kämpft noch immer

gegen die Woge aus Sand.

„Der Abend liegt im Sterben,

wie ein Herd,

der ergeben verlöscht.“

Ach, der unzufriedene Sand,

in Afrika will er nicht bleiben.

Über das Gedichteschreiben sagt er: „Für mich ist es die höchste Form von Konzentration. Man leert den Kopf, und wenn er ganz leer ist, hat man 20 Zeilen.“ Seit einiger Zeit erscheint in jedem SZ-Magazin ein Gedicht von ihm.

Krüger! Mögen die guten Blutkörperchen in dir obsiegen! Mögest du noch viele 20-Zeiler hervorbringen! In nicht zu ferner Zeit schreibe ich die Rezension, versprochen. – Sie aber kaufen und lesen derweil das Buch.

Keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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