Herbei, du holder Virenmai!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 52

Armin Thurnher
am 07.05.2020

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Gestern machte meine Frau aus dem Fenster ein Foto. Es zeigt eine Rehgeiß, die seit Jahren um unser Haus zugange ist, um diese Zeit ihre Kitze zur Welt bringt und sie dann durchs Jahr begleitet. Es mag nicht immer dieselbe Geiß sein, aber für uns ist sie „unsere Geiß“. Sie knabbert Rosen, Hostas und Fette Henne weg, aber was soll’s. Hier steht sie unter einem Baum, der vermutlich ein Rotdorn ist; wir nennen ihn „Japankirsche“.

„Unsere“ Rehgeiß

Foto: @Irena Rosc

Ich wolle Ihnen das Bild zeigen. Zu soviel schöner Ungewissheit schienen mir drei Maigedichte zu passen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Morgen folgt dann gewohnt harter Seuchenstoff.

 

Robinien

Es flammen die Blüten der Robinien

über dem Grün und schaukeln im Wind

In ihnen dröhnen Hummeln und Bienien.

Unter der Erde grummelt die Wurzelbrut

Sammelt still ihre würgende Wut.

Ich schau auf das wiegende Dröhnen

und denk, wie verblendet wir sind

vom strahlend schäumenden Schönen.

Was solls? Wiegende, flammende Robin,

vor euren Blüten bin ich weg und hin!

 

Wieder Mai

Die Kraft der Kastanie, volle Kerzenwucht,

changiert von Chamois nach Champagne,

wenn der eine Rotdorn linkerhand aufdreht.

Der andre starb ab. Japankirsche fließt über,

Forsythie flämmt, der Flieder zeigt auf.

Hinter der Linde schäumt Weißdorn,

weiß kugelt der Schneeball, dottrig die Kerria,

auf scheurot steht die Schattenkastanienampel;

Apfel und Kirsche haben es hinter sich.

Die Wiese draußen gelb von Löwenzahn

und Hahnenfuß; Rauke, Nessel und Giersch

übernehmen vergessene Beete.

Nun, meint Familie Falke, solltest auch du

zur Sache kommen. Schau uns an: wir

fliegen und töten, egal was uns blüht

 

Zugfenster

Gerade hab ich das Schöne erblickt

Ein kleiner Fluss, braun, klar und kalt

ihn festzuhalten auf Word geklickt.

Wie fein fraktal sein Ufer wandert

wie hart die Straße dort mäandert

schwarz glänzt ihr Schlangenasphalt.

Aus einer Wiese ragen Hasenohren

umsummt von seltenen Bienen

’s ist Mai, ich fühl mich neugeboren.

Zur Heumahd angetreten, Landmaschinen!,

bell ich aus der Poetenwindel

les Wordsworth auf dem Kindle

(das ist Schwindel)

und schau dich schön, du Dachstein.

Dachstein, hilft mir beim Wachsein

Hilf mir, nicht immer zu höhnen

schenk mir den Schneeglanz des Schönen

weil Gottes Hohn

hab ich schon


Keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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