Der brutalste Lockdown der Welt

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 13

Armin Thurnher
am 29.03.2020

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„Die Lepra ist eine der grauenvollsten Krankheiten, an der nach Schätzungen der WHO in den tropischen Endemiegebieten noch mindesten 15 Millionen Menschen leiden.“ Diese und manche andere Information entnehmen ich dem Standardwerk „Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen“ von Stefan Winkle, das ich mir eigens für diese Kolumne um teures Geld antiquarisch besorgt habe. Man tut was für sein Publikum.

Die Lepra oder den Aussatz kannte ich aus der Bibel, aus kirchlichen Missionszeitschriften und aus Ben Hur; anders als meist angenommen ist Lepra, die „als der Protoptyp einer hochübertragbaren Krankheit galt“, wenig ansteckend. Dennoch gab sie der forschenden Menschheit die Idee der Übertragbarkeit, der Infektion erst ein. Das kommt, mutmaßt Winkle, von den entstellenden Folgen, den abstoßenden tiefen Wunden auch im Gesicht, und den abfaulenden Gliedern, die sie zur Folge hat.

Als meine Frau und ich vor ein paar Jahren den Slum von Bangalore verließen und eine baumbeschattete Einkaufsstraße betraten, sah ich meinen ersten Leprakranken. Er bettelte und hielt uns ein abgefaultes Bein entgegen, oder das, was davon übrig war. Mein Schrecken war, ich konnte mir nicht helfen, biblisch.

Indien ist eine meiner Teilheimaten. Nur nebenbei empfehle ich hier ein Buch, in dem ich neben anderen Autorinnen über Heimat geschrieben habe. Umso mehr entsetzt es mich, was der rechte Premierminister Narendra Modi dort schon wieder anrichtet. Mit Bangen hatten wir, als wir im Jänner in Kerala waren, in den Zeitungen den ersten Fall verfolgt, den einer aus Wuhan zurückgekehrten Medizinstudentin, die sich sogleich in Kochi in Heimquarantäne begab.

In den Zeitungen hofften Kommentatoren, die Pandemie würde Indien verschonen, denn das Gesundheitssystem des Landes ist dafür in keiner Weise gerüstet und wird schon mit der Tuberkulose und der Pest nicht fertig. Die spanische Grippe soll hier 17 Millionen Tote gefordert haben. Armut, Obdachlosigkeit, dichte Besiedelung und ein desolates, unterdotiertes öffentliches Gesundheitssystem sorgen dafür (nur im seit Jahrzehnten kommunistisch regierten Kerala sind die Verhältnisse besser).

Indien ist die größte Demokratie der Welt, und Maßnahmen lassen sich hier nicht so ohne weiteres durchsetzen wie im autokratisch-kommunistischen China. Wenn Modi überraschend eine zentrale Anordnung trifft, wie 2016 die Einziehung und Ungültigmachung kleinerer Banknoten, richtet er damit Chaos und Schaden an. Mit der Anordnung einer Ausgangssperre gelang ihm Schlimmeres. Sie geschah überfallsartig und erfolgte, nachdem in New Delhi die meisten Lebensmittelgeschäfte geschlossen hatten. Die Armen konnten sich nur unzureichend versorgen.

Millionen Wanderarbeiter verloren schlagartig ihre Jobs am Bau, also ihren Lebensunterhalt und sahen sich vor die Tatsache gestellt, dass weder Züge noch öffentliche Verkehrsmittel fuhren. Wie viele es sind, lässt sich nicht genau sagen, die Washington Post  sprach von zweistelligen Millionen, ein Artikel im Atlantic gar von 100 Millionen (Indien hat 1,43 Milliarden Einwohner).

Wollten die Wanderarbeiter nicht Hungers sterben, mussten sie sich zu Fuß auf den Weg in ihr teils hunderte Kilometer entfernten Heimatorte machen. Manche versuchten, sich mit Schmugglern zu arrangieren, und so sah man mit Menschen vollgepferchte Lastwägen; der Rest, männlich, manche sogar mit der ganze Familie unterwegs, marschierte zu Fuß, in ungeordneten Kolonnen, anzusehen wie ein lebende Skulptur zur Verbreitung des Virus.

Einige Beobachter fühlten sich an die letzte derartige Wanderung erinnert: 1947, als Indien die Unabhängigkeit erreicht hatte und sich in ein muslimisches Pakistan und ein hinduistisches Indien teilte. Es war eine ethnisch-religiöse Säuberung, nur dass es damals Busse und Züge gab. Sie kostete eine Million Tote und 15 Millionen Vertriebene.

Während die Regierung Modi kaltblütig einen Teil ihrer Bevölkerung buchstäblich auf die Straße treibt, holt sie Bürgerinnen und Bürger mit Jets aus China, Italien und dem Iran zurück. Gleichzeitig sehen wir Bilder von Polizei-Brutalität, wie wir, denen es schon zu viel ist, wenn die Polizei versucht, Musik über die Lautsprecher zu spielen, sie uns nicht vorstellen können. Polizisten, die Jugendliche knien lassen oder mit Froschhüpfen bestrafen, andere, die Pärchen mit Riotsticks vom Motorrad prügeln. Indien erlebt den „brutalsten Lockdown der Welt“ (The Atlantic).

Denke ich an mein indischen Freunde, fällt es mir nicht leicht, hinzuschreiben: Keep cool, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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