Seuche und Heilige, I

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 5

Armin Thurnher
am 21.03.2020

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In Seuchen sucht man nach Schutz, rationalem und irrationalem. Die kultische Anrufung kann dazu gehören. Ich habe eine persönliche Beziehung zu allen Heiligen. In meiner magischen Kindheit betet ich ohne weiteres zum Heiligen Antonius, um einen verlorenen Schlüssel zu finden, und ging zum Vetter Franz, um eine Warze loszuwerden. Vetter Franz heilte Gewächse bei Mensch und Vieh, wobei der Mensch sich in die Kruzifixecke im Wohnzimmer zu kehren hatte, während ihm Franz mit dem Daumen Zeichen auf den Rücken machte. Anschließend musste man drei Vaterunser samt Ave Maria beten und, wichtig, „dra glouba“ (daran glauben). Das Vieh verzichtete notgedrungen aufs Gebetsprogramm. Die Warzen fielen in beiden Fällen nach drei Tagen ab.

Später fiel ich vom Glauben ab wie eine Warze. Warum Vorarlberg von Heilern, Fühligen, Männle, Wible und Hexen aller Art nur so überquillt, das Waldviertel jedoch auch in dieser Hinsicht karg bleibt, weiß ich nicht zu sagen. Die Beziehung zum Heiligen flammte in mir wieder auf, als Albert Sellner in mein Leben trat, und das kam so. In den späten 1970er Jahren, nach der Gründung des Falter, sah ich mich auch anderswo um.

Die originellste Stadtzeitung im deutschen Sprachraum war der Frankfurter Pflasterstrand. Er unterschied sich vom empfindsam politisch unabhängigen Falter insofern, als Herausgeber Daniel Cohn-Bendit sein Magazin als politisches Sprachrohr der Frankfurter Sponti-Szene sah, die im Kern aber schon die grüne Realo-Fraktion repräsentierte. Während Joschka Fischer sich noch in der „Putztruppe“ mit der Polizei in Sachen Startbahn West und in Häuserkämpfen prügelte, traf man sich in Hinterzimmern mit Gerhard Schröder (SPD) und Heiner Geissler (CDU), getrennt natürlich, um die (in zwei Jahrzehnten) kommende Beteiligung an der Macht zu konzipieren.

Davon ahnte ich wenig, aber Dany le Rouge wollte ich gern kennenlernen. Ich reiste nach Frankfurt. Als ich den Hinterhof mit dem Eingang zur Pflasterstrand-Redaktion betrat, kam mir ein etwas blasser Cohn-Bendit entgegen. Die Tür verkohlt, die Räume teilweise ausgebrannt, scharfer Rauchgeruch. Radikale Feministinnen hatten einen Brandanschlag verübt, Dany war im Stress. Sprich mit Albert, der ist gut, sagte er.

Tatsächlich war der Anarchist Albert Sellner in der sehr interessanten Pflasterstrand-Redaktion der hellsten und witzigsten Köpfe einer. Dort werkten die Autorinnen Elisabeth Kiderlen, Edith Kohn und Cora Stephan, der junge Matthias Horx, der spätere Welt-Herausgeber Thomas Schmid und der wegen seiner maoistischen Vergangenheit anfangs scheel angesehene glänzende Historiker Gerd Koenen. Mit Albert freundete ich mich gleich an, er schrieb dann vieles für den Falter. Als er später Lektor bei Eichborn wurde, gab er mir den Auftrag für einen Interview-Band mit Franz Vranitzky. Die hiesigen Wohlmeinenden dichteten das Buch zu einer Vranitzky-Biografie um und betrachteten mich fortan als eingeschriebenen Sozialdemokraten.

Der Historiker und Bibliomane Sellner war immer für überraschende Wendungen gut. So legte er als „böhmisch-katholischer“ Autor in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ den „Immerwährenden Heiligenkalender“ vor, ein Kompendium, das in keiner literarischen Hausapotheke fehlen sollte. Als „Rebellen Gottes, Geschichten der Heiligen für alle Tage“ ist es neu erschienen

Ich kann mich gut an Alberts Klagen erinnern, wen er alles aus Platzgründen nicht aufnehmen konnte. Die heilige Corona gehörte dazu. Sie kommt im Buch nicht vor. Dennoch fehlt es nicht an Heiligen, die wir gegen die Seuchen anrufen können: Antonius von Ägpten, Erasmus, Winthir und – Sebastian. Mehr demnächst.

Die Marillenbäume im Waldviertel, die seit einigen Jahren prächtige Ernte liefern, haben noch nicht geblüht. Wir dürfen hoffen.

Keep cool, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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