ANNA GOLDENBERG —
06.11.2016
“Hey Bronx, seid ihr alle da?”, ruft der Gemeinderatsabgeordnete Rafael Salamanca in das Mikrofon. Im Publikum wird gejohlt. Es ist Samstagmittag, Salamanca steht auf einer niedrigen Bühne in Hunts Point im Süden der Bronx, hinter ihm Industriegebiet, vor ihm eine Geschäftsstraße mit niedrigen Häusern. “Das war einmal ein Stripclub”, sagt Salamanca, und zeigt auf eine Ladenfront mit hohen Milchglasscheiben. Nun steht “Pharmacannis” darauf und man feiert die Eröffnung der ersten Ausgabestelle für medizinisches Marihuana in der Bronx. Nach dem 8. November könnten es im ganzen Land viel mehr sein.
Dann werden Wähler in neun Bundesstaaten über Marihuana-Gesetzgebung entscheiden. In Kalifornien, Massachusetts, Arizona, Maine und Nevada könnten dann alle Menschen über 21 Jahren legal Marihuana erwerben dürfen; in Arkansas, Florida, North Dakota und Montana soll der medizinische Gebrauch legalisiert werden. In 25 Bundesstaaten, darunter auch New York, ist die Ausgabe von Marihuana als Medikation für eine Reihe von Krankheiten wie Krebs, Parkinson, Epilepsie, Aids und chronische Schmerzen bereits legal. Vier Staaten erlauben darüber hinaus auch den geregelte Verkauf an Erwachsene. Einen “möglichen Wendepunkt” in der bundesweiten Legalisierung von Cannabis sieht die New York Times in den Abstimmungen. Warum? 82 Millionen Menschen wären von den neuen Regelungen betroffen. Der Druck auf die Regierung würde steigen.
Zurück in der Bronx erfährt man bei einer Führung der Abgabestelle, warum die bundesweite Legalisierung so bitter notwendig wäre. Die Drogenvollzugsbehörde stuft Marihuana gemeinsam mit Heroin, LSD und Ecstasy als Droge der Klasse 1 ein, die hohe Missbrauchsgefahr und keinen medizinischen Nutzen hat. Weil Marihuana als bundesweit illegal and im Staat New York legal ist, übernehmen Versicherungen keine Kosten dafür. Eine Marihuana-E-Zigarette kostet rund $100 und hält, je nach Benutzungsintensität, zwischen sieben und 30 Tagen. Das Rauchen ist verboten und das Medikament darf nicht auf öffentlichen Plätzen eingenommen werden.
Tom, Mitte 50, mit Schirmmütze und randloser Brille, betritt die Bühne. Er nehme seit dem Frühjahr Marihuana; seitdem könne er wieder schlafen und seine Schmerzen ertragen. Das Publikum applaudiert. Und das Beste, erklärt er: Seitdem nehme er auch deutlich weniger Opioid-hältige Schmerzmittel.
2014 sprach das Gesundheitsministerium erstmals von einer “Opioid-Epidemie”; die Zahl der Menschen, die in den Vereinigten Staaten an einer Überdosis starben, ist in den letzten 15 Jahren rasant in die Höhe geschnellt. Im Schnitt sind es jeden Tag 78 Menschen. Sie gilt als Epidemie der Mittelklasse und betrifft ländliche Gebiete und Vororte. Viele sind zunächst von Schmerzmitteln wie OxyContin abhängig, das Mitte der 90er-Jahre auf den Markt kam. In der Werbung wurde dessen Suchtpotenzial verschwiegen, wodurch es vielen Patienten mit chronischen Schmerzen verschrieben wurde. Die Abhängigen wechseln oft zu Heroin.
Körperliche Abhängigkeitserscheinungen bei Marihuana sind weniger stark. Mittlerweile gibt es in New York über 700 Ärzte, die es verschreiben dürfen. Jene Abgabestelle in Hunts Point im Süden der Bronx ist die 20. im gesamten Bundesstaat. Wird die Nachbarschaft davon profitieren?
Hunts Point gehört zu den ärmsten Gegenden New Yorks. Kriminalitäts- und Armutsrate sind hoch; viele Jahre war es jener Ort, wo man hinkam, um zu tun, was sonst nirgends erlaubt war. Als sie ein Kind war, habe man Prostituierte auf der Geschäftsstraße gesehen, erzählt eine Besucherin Anfang 20. Nun sei es etwas besser und die Hoffnung der Anwohner ist, dass die Abgabestelle auch die umliegenden Läden beleben werde. Dazu müssen sich die Menschen in der Bronx das Marihuana erst einmal leisten können.