ANNA GOLDENBERG —
02.11.2016
Der weiße, niedrige Ladenkasten steht schon seit mehreren Tagen auf dem Gehsteig, sagt Sara Erenthal. Sie inspiziert ihn: An den Schubladen ist Holz abgeblättert. Also, mutmaßt sie, will ihn niemand mehr haben. Sie kann zur Tat schreiten.
In New York City ist es üblich, Einrichtungsgegenstände, die man nicht mehr braucht, zunächst einmal vors Haus zu tragen. Bis die Müllabfuhr kommt, vergehen meist einige Tage, sodass Nachbarn und Passanten Zeit haben, sich zu bedienen. Bisweilen findet man auch Hinweisschilder, “Free!” oder “Don’t take — bed bugs!” (“Nicht nehmen — Bettwanzen!”). Es sind jene Stücke, die übrig bleiben, die Erenthal interessieren.
Auf einer belebten Geschäftsstraße im Brooklyner Stadtteil Park Slope, in dem viele junge Familien leben, zerrt die Mitdreißigerin einen Müllsack zur Seite, setzt sich neben dem Ladenkasten auf den Gehsteig und zieht einen schwarzen Marker aus der Tasche. In wenigen Minuten hat sie ein abstrahiertes Frauengesicht gemalt, mit kinnlangen Haaren und knallroten Lippen. Ein Selbstporträt, erklärt Erenthal, die die Haare mittlerweile ganz kurz trägt.
Seit einem Jahr wohnt sie in der Nachbarschaft und ist mittlerweile eine lokale Berühmtheit. Vor einem Kindergarten steht ein altes Klavier, das sie bemalt hat; ihre Frauenfiguren zieren den Rollladen einer Bar. Die Eistruhe eines Deli hat sie mit Blumen verziert. Und natürlich viele, viele ausgemistete Möbelstücke. “Ich finde es toll, aus Mist etwas zu machen, das Leute haben wollen”, sagt sie. Bemalt sie etwa ein Sofa, schneiden Menschen den Stoff aus. Eine Boutique in der Nähe stellt ihre Zeichnungen aus, die sie auf ein Regalbrett gemacht hat.
Zur Straßenkunst kam Erenthal aus Not — weil ihr das Geld für Materialien fehlte. Erenthal wuchs in einer ultraorthodoxen, jüdischen Gemeinde in New York auf; mit 17 Jahren riss sie von zuhause aus, um einer arrangierten Ehe zu entkommen. Sie ging nach Israel, zum Militär. Damals war es das Richtige für sie, weil sie viel lernte und man sich um sie kümmerte, sagt sie; heute würde sie es nicht mehr tun. Danach kehrte sie nach New York zurück, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, reiste zwei Jahre durch Südostasien.
Seit fünf Jahren widmet sie sich ganz der Kunst, die sich viel um ihre, wie sie selbst sagt, unglückliche Kindheit sowie auch ihr Leben danach dreht. Ihre Frauenköpfe haben etwa die unterschiedlichsten Frisuren, weil die in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben: Als Kind durfte sie nur Zöpfe tragen; als verheiratete Frau hätte sie ihre echten Haare mit einer Perücke bedecken müssen.
Mehrere Gruppen- sowie eine Soloausstellung hat Erenthal in New York schon hinter sich. Kann sie von der Kunst leben? Nicht luxuriös, aber “für Essen und Zigaretten reicht es”, sagt sie. “Ich zahle halt einen Preis dafür, Kunst zu machen.” Indem sie kreativ ist, verarbeitet sie auch ihre Vergangenheit; als politische Künstlerin würde sie sich nicht bezeichnen. Für die Präsidentschaftswahlen am 8. November hat sie sich etwa gar nicht erst registriert. Donald Trump findet sie furchtbar, für Hillary Clinton kann sie sich auch nicht begeistern. “Wäre es Bernie Sanders geworden, hätte ich mich wohl engagiert.”
Der Ladenschrank findet übrigens weniger als eine Stunde, nachdem Erenthal ihn bemalt hat, ein zweites Leben — in der Boutique, die bereits ein Kunstwerk von ihr ausstellt.
Wie ist es, einer streng religiösen Gemeinschaft den Rücken zu kehren? Leseempfehlungen zum Thema
- „Unorthodox“ (Deborah Feldman, Secession Verlag für Literatur, 2016)
- „All Who Go Do Not Return“ (Shulem Deen, Graywolf Press, 2015)
- „Cut Me Loose“ (Leah Vincent, Penguin Books, 2015)
- „USA: Immer mehr ultraorthodoxe Juden kehren ihrer Gemeinschaft den Rücken“ (Anna Goldenberg, profil, 30. April 2014)
- „Ex-Hasidic Woman Marks Five Years Since She Shaved Her Head“ (Frimet Goldberger, Jewish Daily Forward, 7. November 2013)