„Es muss schwer sein, in der heutigen aufgeheizten Stimmung erwachsen zu werden“

Bloggerin Kübra Gümüşay über den Hashtag #OrganisierteLiebe, Feminismus und das Islambild von Extremisten


ANNA GOLDENBERG

06.05.2016

"Lasst uns Liebe organisieren!" Kübra Gümüsay auf der re:publica 2016 in Berlin. Foto: re:publica/Gregor Fischer CC BY 2.0

„Lasst uns Liebe organisieren!“ Kübra Gümüşay auf der re:publica 2016 in Berlin. Foto: re:publica/Gregor Fischer CC BY 2.0

Frau Gümüşay, Sie haben mehrere Hashtag-Kampagnen gestartet und mitinitiiert. Wo sehen Sie deren Rollen?

Die erste Kampagne war #schauhin. Das Ziel war, eine Alltagsrealität, nämlich den alltäglichen Rassismus, der für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar ist, sichtbar zu machen. #ausnahmslos hatte wiederum zum Ziel, in der emotional sehr aufgeladenen Debatte um Köln herum Komplexität, Besonnenheit und die Arbeit an nachhaltigen Lösungen zu ermöglichen und zu verhindern, dass das Geschehene — sexualisierte Gewalt —für rassistische Positionen instrumentalisiert wird. #OrganisierteLiebe ist ein Appell an die gesamte Gesellschaft, insbesondere an die digitale, Liebe zu organisieren. Denn ich sehe einen dringenden Bedarf, gegen den Hass, der in unserer Gesellschaft immer mehr Platz einnimmt, ein lautes Zeichen zu setzen, indem wir noch lauter werden.

Was lief Ihrer Meinung nach in der Debatte um Köln falsch?

Ein Grundproblem fängt mit der Frage an, wen lassen wir zu diesen Themen sprechen. Jemand hat letztens gesagt, es gäbe — gefühlt — in diesem Land mehr Islamexperten als Muslime. Ich finde, das trifft es ziemlich gut. Was mich außerdem traurig stimmt, ist die AfD und das plumpe Weltbild, das sie verbreitet. Sie verweigert sich der Realität, die nun mal nicht schwarz und weiß, sondern komplex ist. Das war auch der Grund, warum wir während der Debatte um Köln verzweifelt waren. Man versucht, den Menschen, die populistisch argumentieren, die Komplexität zu erklären und dann wird einem vorgeworfen, man würde verharmlosen! Da wird einem vorgeworfen, wir würden die Dinge kaschieren wollen. Dabei geht es lediglich um eine realitätsnahe, nachhaltige Diskussion, die tatsächlich Fortschritt und Lösungen bringt.

Sie bezeichnen sich als Feministin. Auch über die Frage, ob Islam und Feminismus zusammengehören, wurde diskutiert.

Mich stört an der Frage die Suggestion, beides gehe eigentlich gar nicht zusammen – und jetzt muss ich beweisen wie es doch gehen kann. Dabei muss man keine intellektuelle Glanzleistung erbringen, um als Muslima feministisch zu sein. Viele meiner muslimischen Freundinnen bezeichnen sich nicht als Feministinnen. Wenn ich das aber aussuchen dürfte, würde ich sie als Feministinnen bezeichnen, weil sie für all diese Dinge eintreten, für die ich auch eintrete; nur wählen sie nicht dieses Label. Sie stehen für Gleichberechtigung, gleiche Bezahlung, Wahlfreiheit und gegen Sexismus und patriarchale Strukturen.

Wahr ist aber auch, dass es Frauen, Muslima, gibt, die in patriarchalen Strukturen leben und leiden. Die zum Kopftuch, zur Heirat, zur Religion gezwungen werden. Falsch ist es aber zu behaupten, der „wahre“ Islam sei dieser Islam, sexistisch und patriarchalisch, und alles andere seien lediglich Abweichungen. Damit schwächt man Frauenrechtlerinnen, die seit Jahrzehnten gegen diese Auslegungen arbeiten, und stärkt stattdessen die Positionen eben jener Radikalen und Extremisten, die die Religion für ihre Zwecke instrumentalisieren. Sogenannte „Islamkritiker“ und Extremisten stehen damit für das gleiche Islambild.

Seit 2008 führen Sie den beliebten Blog „Ein Fremdwörterbuch.“ Wie kamen Sie zum Bloggen?

Es gab viele verschiedene Gründe, unter anderem Erfahrungen, die mir verdeutlich haben, dass die Gesellschaft Menschen wie mich, muslimische Mitbürger, einfach nicht kennt. So wollte ich eine Möglichkeit schaffen, muslimisches Leben näherzubringen und eine Stimme für mich selbst zu finden. Ich wurde darüber hinaus sehr früh politisiert, da ich 13 Jahre alt war, als der 11. September geschah. Damit hat meine unbeschwerte Jugend schlagartig aufgehört. Dabei hat mir das Internet geholfen, mich über dieses Thema mit Jugendlichen aus der ganzen Welt zu unterhalten und auszutauschen und mich zu engagieren. Damit war ich nicht begrenzt auf die Informationen und Möglichkeiten in meiner Umgebung. Ich bin sehr dankbar, dass das in einer Zeit geschah, wo Blogs, Twitter und Co nicht derartig populär waren, wie sie es heute sind. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, zu wachsen, unvollständige Gedanken zu haben, naiv zu sein, unwissend zu sein, mich zu entwickeln. Es muss schwer sein, in der heutigen aufgeheizten, aufgeladenen Stimmung erwachsen zu werden.

Kübra Gümüşay ist freie Journalistin und Bloggerin. Im Jänner 2016 initiierte sie mit 21 anderen Aktivistinnen die Hashtag-Kampagne #ausnahmslos gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Mit dem Falter sprach sie auf der re:publica 2016 in Berlin, wo sie ihre neue Kampagne #OrganisierteLiebe präsentierte, die mit positiven Inhalten gegen Hass im Netz vorgeht.