Zwischen Zieglergasse und Neubaugasse, wo die Bezirksteile Schottenfeld und Neubau aufeinandertreffen, liegt der Brillantengrund. Früher war er die Heimat der Seiden- und Textilfabrikanten. Das Grätzel ist heute ein anderes – seien es die Gourmetmeile an der Zieglergasse, die Luxusläden an der Westbahnstraße oder die Virtual Reality Lounge. Aber auch Alteingesessene sind noch hier
Die Zieglergasse am Vormittag – mit der Emsigkeit der Neubaugasse oder gar der Mariahilfer Straße hat sie wenig gemein. Doch in der Neubauschenke an der Ecke zur Seidengasse herrscht schon geschäftiges Treiben. Von der Gaststube aus sieht man durch die enge Durchreiche Helga Vojka Rigler werken. Einen Teigklumpen nach dem anderen greift sie aus einer breiten Metallwanne, quetscht eine Zwetschke dazwischen und formt eine Kugel. So macht sie es unzählige Male, bis sie genug Knödel für Mittag hat. „Um sieben Euro gibt’s jeden Tag drei Mittagsmenüs, dazu ein Beverage“, sagt die gebürtige Slowenin. Seit 1980 führt sie das Gasthaus, dazwischen hat sie acht Jahre ein Lokal in Florida betrieben. Immer wieder streut sie englische Begriffe in ihren österreichischen Dialekt ein. Früher, als der „Kurier“ noch um die Ecke war und zu Mittag Hochbetrieb herrschte, musste es schnell gehen. Sie erinnert sich gut daran: „Wenn die Leut’ gekommen sind, ist die Suppe schon am Tisch gestanden, und nach fünf Minuten waren die schon wieder weg.“
An manchen Ecken findet man sie noch, jene Erinnerungen, die von der Geschichte des Bezirkes erzählen. Im 18. und 19. Jahrhundert erlebte das Grätzel seine Blütezeit. Anstelle der Gastgärten waren in den Hinterhöfen Fabriksgebäude, in denen die Seidenfabrikanten ihren Reichtum erarbeiten ließen. Brillantengrund nannte sich die Gegend damals. Ganz so betriebsam ist der Alltag in der Zieglergasse nicht mehr. Und das neue, hippe Neubau hat sich hierher noch nicht ganz den Weg gebahnt.
Aber das erste rein afghanische Restaurant Wiens findet man in der Zieglergasse. Zumindest behauptet sein Besitzer, der gebürtige Afghane Khaled Koshdel, diese Vorreiterschaft. Im Noosh kann man sich um wohlfeile 7,80 Euro am Mittagsbuffet bedienen – an traditionellen Gerichten wie vegetarischen Teigtaschen, geschmortem Rindfleisch oder Okraschoten. Auch bei Schwarztee und afghanischen Zuckermandeln lässt es sich hier gut verweilen.
Bevorzugt man hingegen ein Gläschen Tinto de Verano, wie der spanische Rotweinspritzer genannt wird, so bietet sich das toma tu tiempo an. Die Tapasbar ist inspiriert vom südspanischen Dörfchen Tarifa – weiß gestrichene Fassade, in Blau gehaltene Fensterläden. Dass hier kein Sangria ausgeschenkt wird, lässt das toma tu tiempo gleich noch eine Spur authentischer erscheinen. Und jeden Tag schiebt Koch Hugo nicht weniger als 300 Tapas über den Tresen. Doch nicht nur die Verlockungen der Gastronomie verdienen Aufmerksamkeit. Wenn es der Zufall will und eines der Haustore offensteht, lohnt sich ein Blick in die Hinterhöfe der Gründerzeithäuser. Manchmal sind es zwar nur kahle, nicht selten aber bestechend schöne, begrünte Hinterhöfe, in denen vor langer Zeit Seide, Garn oder Wolle gesponnen wurde.
Gleich vis-à-vis des toma tu tiempo residiert seit 150 Jahren das Gasthaus zur Stadt Krems . Bei Kaiserwetter ist der ruhige Pawlatschenhof ein kaum auszuschlagendes Angebot. Nach Sonnenuntergang ist er von bunten Glühbirnen erleuchtet. Im hinteren Trakt des Hauses, in der heute ältesten noch in Betrieb befindlichen Kegelbahn Wiens, haben sich vor Jahrzehnten Teams wie die „Elektrorunde“ oder „Die Friedlichen“ für Kegelabende zusammengefunden. Wie der Wettkampf der „Friedlichen“ ausgegangen ist, dokumentiert ein vergilbtes Plakat aus den 1940er Jahren. Für Chef Stefan Schiffner war es wichtig, vieles so zu belassen, wie es ursprünglich war:
„Als wir das Lokal damals übernahmen, wollten andere mit ihren Kreationen Superstars werden und in die Zeitung kommen. Wir aber haben gesagt: Wir machen Gefüllte Paprika und Fleischlaberl.“ Die Schwierigkeit in der Gastro sei es, so Schiffner, konstant gut zu sein. Das Gasthaus zur Stadt Krems meistert die Herausforderung als gestandenes Wirtshaus mit Schinkenfleckerln, Innereien und gebackener Scholle.
An der Ecke zur Burggasse: das froemmel’s . Die Konditorei geht hier seit 1967 ihren Geschäften nach und wuchs sukzessive, ein Teil des Lokals beherbergte lange Zeit das Café Signal. Als der Westbahnhof noch das logistische Herzstück der Bundesbahnen war, lebte in der Gegend auch ein großer Teil der ÖBB-Belegschaft. Im Café Signal wurden die Getränke daher konsequent mit einer kleinen Lok serviert, die auf Gleisen durch das Lokal kurvte. Heute erinnert noch eine kleine Lok in der Auslage an diese Zeit. Mittlerweile setzt Inhaber Markus Frömmel neben dem klassischen Konditorbetrieb auch auf Catering, zudem gibt es ein neues Café mit warmen Speisen. Gerne erzählt Frömmel, der selbst im Siebten aufgewachsen ist, von der bewegten Geschichte der Gegend, von den vielen Betrieben und Persönlichkeiten wie Klimt oder Farkas, die den Bezirk ihr Zuhause nannten: „Irgendetwas hat der Boden hier.“
Nicht nur Wiener werden von diesem Boden angezogen. In unmittelbarer Nähe zum froemmel’s hält die Buchhandlung Mi Lesestoff ohne Ende bereit. Betritt man den ruhigen, bis oben hin vollgestapelte Laden, begrüßt Miroslav Prstojevic´ mit einem herzlichen „Dober Dan!“. Der 70-Jährige mit dem dichten Schnauzer hat sich hier vor zwanzig Jahren niedergelassen, nachdem er aus Sarajewo geflohen war. „Mi“ bedeutet auf Deutsch „Wir“. „Ich bin ich und wenn Sie herkommen, dann sind das wir – so einfach ist das“, sagt Prstojevic´. Er bietet rund 13.000 Bücher feil, großteils in den verschiedenen Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens. Englisch- oder deutschsprachige Literatur findet man bei Mi nur, wenn sie sich mit der Region auseinandersetzt. Wie der von Prstojevic´ selbst verfasste „Sarajevo Survival Guide“, der einzige Reiseführer über eine Stadt im Krieg, wie der Autor erklärt. Schwarzhumorig empfiehlt er darin das Schrapnell als Souvenir, unter den Ausnahmezustand-Rezepten findet sich „Mayonnaise with no eggs“. Die Zutaten: Milchpulver, Mehl, Öl, Wasser und Zitronensaft.
Weitaus g’schmackiger geht es da im Westpol auf der Lerchenfelder Straße zu. Zabit Fidan, ursprünglich aus dem ostanatolischen Densin, gründete das Café vor rund einem Jahr. Die Speisekarte verändert sich saisonal, die Küche ist levantinisch, italienisch und orientalisch. Die internationale Belegschaft – unter anderem aus Spanien, Afghanistan und Libyen – hinterlässt zusätzlich ihre Spuren. Und wegen der polnischen Köchinnen dürfen auch Pierogi nicht auf der Karte fehlen.
Durch die Myrthengasse gelangt man über die Hermanngasse zum mit Hauben ausgezeichneten Grünauer . In traditioneller Wirtshausästhetik werden hier unter der Woche abends Schnitzel, Gulasch und andere Klassiker – wohlgemerkt immer in Variationen – sowie die passenden Biere, Weine und Hochprozentiges gereicht.
Eine scharfe Rechtskurve weiter das Wiener . Heute steht das Lokal im Zeichen der Haute Cuisine, in den 70er und 80er Jahren aber war es der Treffpunkt der Austropopszene schlechthin. Ambros, Fendrich und Falco gaben sich die Klinke in die Hand. Johann Hrach, damals Kellner und heute Betreiber, erinnert sich, wie sie jeden Tag, von Montag bis Sonntag, um vier Uhr früh die Sperrstunde ausrufen und die Leute aus dem Lokal werfen mussten. Beef Tatar, Carpaccio oder veganes Schokomousse, die heute auf der Karte stehen, haben damals niemanden interessiert. Aber man kann sich gut vorstellen, wie hier die Austropopgrößen von damals die Nacht zum Tage machten.
In der Westbahnstraße hat sich der gelernte Goldschmied und Absolvent der Angewandten Thomas Kreuz seinen Traum erfüllt. Was als Projekt an der Uni begann, ist mittlerweile zu einem Fixpunkt des Grätzels geworden. Im WauWau Pfeffermühlen verkauft Kreuz seit 2009 Pfeffer-, Chili- und Salzmühlen aus eigener Produktion. Ab 52 Euro kann man sich hier mit den wunderlichsten Exemplaren – neuerdings etwa in Leuchtturmoptik – eindecken. Der Name WauWau hat nebenbei nichts mit Hunden zu tun, stellt Kreuz klar: „Ich bin überhaupt kein Hundefan.“ Ihm ging es lediglich um einen prägnanten Namen, den sich jedes Kind merken kann.
Apropos Kind: Wer pädagogisch wertvolles Spielzeug sucht, ist im Spielwurm an der richtigen Adresse. Statt Plastikware oder Merchandise-Produkten aus dem Hause Disney gibt es hier eine breite Auswahl an Holzspielzeug, Lern- und Motorikspielen. „Die Kreativität des Kindes soll sich entwickeln können“, sagt Inhaberin Elisabeth Mboge-Grigg.
Die passende Kleidung für die Kleinen gibt es bei Daantje Kids Design zu entdecken. Das skandinavische Kindermoden- und Spielzeuggeschäft bietet auf drei Etagen ein breites Sortiment, das von Kinderschuhen über magnetische Knete und 3D-Puzzles bis hin zu Kinderbetten reicht. Geführt wird das Geschäft vom Niederländer Peter Kleismann. Ihm ist vor allem wichtig, dass alle seine Produkte biologisch und fair produziert sind. „Wir haben hier nichts, bei dem wir uns nicht sicher sind, dass die Standards eingehalten werden“, betont er.
Auf Qualität setzt auch das Sehprojekt . Optiker Michael Reishofer sieht seine Arbeit als einen Prozess, ein Projekt, das nicht mit dem Verkauf der Brille oder der Kontaktlinsen zu Ende ist, sondern auch aus Nachbetreuung und einem guten Verhältnis zu seinen Kunden besteht. Seine Brillenfassungen bezieht er allesamt von Herstellern aus Europa, die er persönlich kennt. Dabei gibt es durchaus ausgefallene Fassungen – etwa mit eingelassenen Blumenblüten, aus gehärtetem Leder oder aus ehemaligen Schallplatten.
Ihre traditionsreiche Seite zeigt die Westbahnstraße bei Hohoff Hair . Seit 1971 betreibt Brigitte Hohoff ihren Friseursalon. Sie hat einige Trends mitgemacht. „Ich hatte schon eine Parfümerie und Solarien hier drinnen – alles, was gerade so in war“, erinnert sie sich. Heute verkauft sie nebenbei Mode vom Label ihres Sohnes. Die schlagfertige Dame hat die Veränderung des Bezirkes selbst miterlebt, etwas seriöser und gehobener sei er früher gewesen. Doch sie sieht das entspannt: „Leben ist Bewegung. Wenn sich mal nix mehr bewegt, ist man tot.“ Außerdem seien die neuen Lokale „eh chillig“, wie sie es ausdrückt.
Chillig ist es auch im Blumengeschäft von Brigitte Aigner . Im kleinen, mit Pflanzen überwucherten Lokal ist es angenehm ruhig, ruhiger als auf der betriebsamen Straße draußen. Und wenn man sich ein bisschen Zeit nimmt, sucht Aigner nicht nur passende Blumen, sondern erläutert gleich noch Horoskop und Baumkreiszeichen. Viele Kunden sind wohl wegen dieser persönlichen Betreuung zu Stammkunden geworden.
Persönlich beraten wird man auf der Westbahnstraße auch bei Franke Leuchten , wo es die ausgefallensten Designerleuchten gibt. Die Lichtplanung übernehmen Katharina Franke und ihr Team selbst. Im Geschäftslokal fällt der Blick auf den pechschwarzen Lastenaufzug. Vor mehr als hundert Jahren wurde er installiert. „Es kann nichts Neues entstehen, wenn man das Alte nicht schätzt“, so Frankes Motto. Daher war für sie klar, dass der Aufzug bleibt. Auch die Tradition des Bezirkes schätzt sie sehr. „Ich finde, der Siebte ist immer noch ein Ort, an dem man stets etwas entdecken kann“, sagt sie.
Über die Bandgasse im Zweitkleid7 bietet Martina Brückl seit zwei Jahren Secondhand-Mode an. Mit ihrem Geschäft wollte sie einen Spagat schaffen: „Es sollte etwas sein, das es in der Form noch nicht gab – kein Design-Secondhand-Shop, aber auch keiner dieser vollgestopften Läden, wo’s riecht wie bei Oma in der Mottenkiste.“ Daher findet man bei ihr weder H&M noch Gucci. Doch wer leistbare und zugleich modische Ware sucht, ist hier richtig.
Weiter die Hermanngasse hinunter, unter dem Kurierhaus durch. Die Virtual Reality Lounge ist einer der jüngsten Zugänge des illustren Grätzels. Samstagabends ist es hier knackevoll. Mit klobiger Oculus-Rift-Brille über den Augen kann man entweder mit zwei Controllern Mini-Games spielen, dabei mit Pfeil und Bogen seine Burg verteidigen. Oder aber mit den überraschend realitätsnahen Rennsimulatoren um die Wette rasen. Das Konzept der Geschäftsführer Florian Sam und Timon Liebau erinnert an die Arkadenhallen der 80er Jahre. Beim ersten Besuch kann man gratis das Sortiment durchprobieren, was auch ohne Konsolenvergangenheit durchaus Spaß macht.
Im benachbarten Andreaspark fällt der Blick auf zwei riesige Graffiti, die 2015 im Rahmen des Calle Libre Festivals entstanden sind. Mit etwas Glück kann man darunter am Spielplatz junge Parcours-Sportler beobachten, die mit faszinierender Körperbeherrschung von einer Betonwand zur nächsten springen und ohne Sicherung Salti und andere waghalsige Turnübungen vollführen.
Schließlich sollte man noch einmal zur Bandgasse zurückkehren. Der absolute In-Spot, der mit seinem Namen auf die Prunkzeit des Grätzels hinweist, ist das Hotel am Brillantengrund . Rein beim Hauseingang Bandgasse 4, durch das Foyer und in den Pawlatschenhof, von dem aus man die Zimmertüren erspähen kann. Vor einigen Jahren übernahm Marvin Mangalino das Hotel mit Partnern, seither organisieren sie regelmäßig Flohmärkte, Fotoausstellungen und zuletzt eine Skulpturenausstellung im Raum hinter dem Hof. Gekocht werden Mangalinos liebste Kindheitsgerichte der philippinischen Küche. Und im lauschigen, grellgelb gestrichenen Hof, der immer noch von den traditionellen Steinputten beim Musizieren gesäumt ist, klingt der Tag mehr als gemütlich aus.