Vom Gürtel bis zur Zieglergasse hat Neubau viele Gesichter. Die Hässlichkeit des Gürtels strahlt ins Bezirksinnere, doch an vielen Ecken siegt die Schönheit. In diesem Grätzel gibt es nur einen kleinen gemeinsamen Nenner: die Unberechenbarkeit
Es geht los mit Hässlichkeit. Der Beton. Die Abgase. Conny’s Kabinensex. Der Lerchenfelder Gürtel ist so etwas wie das heruntergerockte Haustor einer renovierten Villa. Durch ihn kommen die meisten Autos in den 7. Bezirk. An der Mündung der Burggasse biegen sie ein. Auch hier gibt es sie: rotzige Beisln und Peep-Show-Lokale. Die Gehsteige und Fassaden sind geprägt von ihrer Nähe zum Gürtel. So war der Siebte früher. „Ostblock“, sagen die Leute, die schon in den Achtzigern hier waren.
Aber schon in der Wimbergergasse und der Kenyongasse kommt beim Fußgänger Freude auf. Hier hat sich in den vergangenen Jahren in der Freiheit dieses rauen Settings ein afrikanisch-asiatischer Mikrokosmos gebildet. Impulsgeber ist das PROSI-Imperium. Es setzt sich zusammen aus dem PROSI Exotic Supermarket , der PROSI Cosmetic World und dem frisch eröffneten PROSI Exotic Restaurant. Gegründet wurde der damals winzige Gewürzladen von Prince Pallikunnel, einem Lehrer aus Kerala in Südindien. Heute sind seine drei großen Läden eine Wiege des Völkeraustausches. Vor dem gewaltigen Gewürzregal im Supermarkt stehen täglich Menschen aus Sri Lanka, Nigeria, Mexiko, Brasilien und Dutzenden anderen Ländern. Im Selfservice-Lokal empfiehlt sich für den Einstieg ein Mango-Lassi und Masala Dosa, ein Pfannkuchen aus Reismehl- und Linsenteig mit Kartoffelgemüse, gebacken auf einer gusseisernen Platte und serviert mit drei Chutneys. „Eine so große Auswahl an südindischer Küche gibt es nur bei uns“, sagt Pallikunnel. Im PROSI-Grätzel ist Wien eine Großstadt.
Einen Tupfer Internationalität findet man auch in der Burggasse. Über dem Admiral-Kino hat der französische Streetart-Künstler Invader eines seiner kleinen Fliesen-Mosaike angebracht. Er hilft den pixeligen Charakteren aus dem 80er-Jahre-Computerspiel „Space Invaders“, in die Fassaden auf der ganzen Welt „einzudringen“. Wer auf verspielte Entdeckungen wie diese aus ist, wird auch an buntwäsche in der Kaiserstraße seine Freude haben. Im Hinterhof des Kleidergeschäfts steht ein umwucherter Ziegel-Pavillon mit Läutwerk und einer verstaubten Uhr an der Front. Ehemalige Besitzer haben ihn sich in den Garten gestellt, um darin Tee zu trinken. Im Geschäft verkauft Melanie Lediger nachhaltig produzierte, selbst designte und entschleunigte Kleidung aus Bio-Baumwolle und Leinen. „Wir haben Größen für Neugeborene, aber auch für den XL-Mann“, sagt Lediger. Der Schwerpunkt liegt aber auf den Kleinen. Mieterin Adrienn Leier kümmert sich um Babytragetücher und gibt bei Bedarf Trageberatung.
Hier, in der zweiten Parallelstraße zum Gürtel, beginnt der Siebte sein zweites Gesicht zu zeigen. Er legt die Hässlichkeit ab, als wäre sie nur Make-up. Liebevoll gestaltete Einkaufsläden säumen die Kaiserstraße. Das Viertel der Spezialistenläden beginnt. In den dicht besiedelten Häuserreihen tummeln sich Menschen, in den Geschäften wird gefachsimpelt, in den Gastgärten geschlemmt. Beton, Abgase und Conny’s Kabinensex rücken in die Ferne. Nur über die Burggasse tröpfeln vereinzelt Swinger Clubs vom Gürtel ins Bezirksinnere. Neubau ist hier bunt, jung und auch ein bisschen sprunghaft. Aber man findet auch Traditionalisten. Etwa Schmidtschläger , laut Eigendefinition Spezialist für Beschläge und Sicherheit. Das ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gut, nicht die ganze Welt, aber immerhin Türen, Fenster und Möbel. Beschläge sorgen dafür, dass alles ordnungsgemäß auf- und zugeht. Wer etwa bei einem schönen Möbelstück ein Scharnier-Problem hat, der geht zu Schmidtschläger. Oder wer ein neues Schloss braucht. Ängstliche bekommen eine Sicherheitstür mit der höchsten Widerstandskraft. Das Geschäft wurde von Walter Schmidtschläger Ende der 50er Jahre gegründet, seit 25 Jahren führt es sein Sohn Klaus. 1980 haben beide eine Entscheidung getroffen, erzählt Klaus Schmidtschläger: „Dass wir in die Kaiserstraße ziehen und nicht an den Stadtrand.“ Gutes, altes, vom Aussterben bedrohtes Traditionshandwerk findet man bei Kaiser-Stuck . Inhaber Martin Kastner wird von Kennern als Wiener Original bezeichnet. Eine Schande, dass Stuck heute nicht mehr so geschätzt wird wie einst. Doch die Mörtelkunst hat noch ihre Verehrer: Der „ZiB“-Moderator Tarek Leitner etwa hat Kastner in seiner Wohnung Hand anlegen lassen.
In der Kaiserstraße kann man aber auch innerhalb von wenigen Metern Karaoke singen, verrückte Strumpfhosen anprobieren, eine Darth-Vader-Kuchenform kaufen, Hörbücher hören oder Miesmuscheln essen. Aber der Reihe nach.
An der Ecke Kaiserstraße/Stollgasse verbirgt sich hinter einer gepolsterten Türe, die man über eine dunkle Kellerstiege erreicht, eine unerwartete Welt. Kellner und Köche von asiatischen Lokalen aus der ganzen Stadt kommen in das riesige Karaoke-Kellerlokal KTV , um am Feierabend noch ein bisschen zu singen. Als Snack auf der Speisekarte: Hühnerfinger aus dem Vakuum-Sackerl. Die Straße weiter hinunter wird es nicht weniger skurril. Im Geschäft LegArt bekommt man Leggins mit Lebkuchen-Motiv und ganz generell Strumpfhosen „abseits des Mainstreams“ – inklusive Laufmaschenversicherung. Schräg gegenüber befindet sich Runch! Comics . „Ein so gut sortierter Comic-Laden ist sogar in den USA selten. Wir haben die ärgste Auswahl“, versichert Nina Scheffenegger, die seit vielen Jahren in den mittlerweile engen Gängen zwischen den vollgestopften Regalen werkt. Selbst ein schneller Blick in die Auslage lohnt sich: Ein Diorama stellt dort die fiktive „Star Wars“-Episode 4.5 dar.
In der entgegengesetzten Richtung versinnbildlichen zwei Läden ebenfalls die Vielfalt der Kaiserstraße. Im Hörbuch-Café Audiamo kann man in 30.000 Hörbücher reinhören und, bei Gefallen, diese auch kaufen. „Die neuen Romane gibt es auch in klassischen Buchhandlungen, aber wir haben hier sogar die Rilke-Gedichte, gelesen von Oskar Werner“, erklärt Geschäftsführerin Monika Röth das Konzept. Mit ihrem Geschäft setzt sie auch ein Zeichen der Unbändigkeit. Nachdem ihr Augenlicht aufgrund einer Erkrankung immer schwächer wurde, beschloss sie 2007 mit ihrem Lebensgefährten, einen Hörbuchladen aufzumachen.
Ein weiterer Kontrast: das Bistro Flatschers am Ende der Kaiserstraße. Im Gegensatz zum zweiten Lokal von Andreas Flatscher in der Kaiserstraße, einem amerikanischen Steakhouse , wird hier französische Küche aufgetischt. In der gediegenen Wohnzimmer-Atmosphäre ist man schnell versucht, einen der siebzig verschiedenen Gins auf der Karte zu probieren. Spezialität des Hauses: der selbstgemachte Wakeholder. Eine fruchtig-frische Spirituose: Zuerst schmeckt man nur die kräftige Zitrusnote, die dann von Wacholder, Pfirsich und Löwenzahn überlagert wird. Im November eröffnet nebenan ein dritter Flatscher-Laden. Die Flotte Charlotte wird ein frecher Imbiss nach Berliner Vorbild – mit Champagner zur Currywurst.
An der Ecke Kaiserstraße/Westbahnstraße hat die Bäckerei Felzl einen ihrer zwei Brotautomaten installiert. Jeden Abend nach Geschäftsschluss wird er mit dem Brot und Gebäck des Tages befüllt. Rechts davon springt einem der knallig-bunte Laden von Miryam Wedler und Daniel Astner ins Auge. Guate Stoffe verkauft genähte Produkte wie Hängematten, Baby-Pyjamas oder Kosmetik-Taschen aus Guatemala. Guate Stoffe arbeitet mit Frauen-Kooperativen zusammen und verzichtet so auf dubiose Zwischenhändler. Für die Naturfarben der Garne kochen die Frauen Blätter, Rinde oder Bambus am offenen Feuer ein, dann werden die Garne per Hand zu Stoff gewebt. „Mehr Bio geht nicht“, sagt Astner. Einen anderen Kooperationspartner findet man viel näher, die Westbahnstraße stadteinwärts: Bei Dieroff kann man zur Hängematte passende Seile und Karabiner erwerben. Sportlich Ambitionierte werden im hinteren Raum des Natur- und Seilwarenladens glücklich. Gegenüber handdicken Bambusstangen gibt es Strickleitern, Kokosnetze und Seile für den privaten Turnsaal. Apropos Stoffe: Wer Bekleidung und Möbel selbst nähen will, sollte am Stoffsalon nicht vorbeigehen. Alexandra Rath und ihr Team stellen eine Auswahl an lösungsmittelfreien Baumwoll- und Leinenstoffen zusammen, die auch online bestellt und bei einem der Abendkurse vernäht werden können. Zwischen Dieroff und dem Stoffsalon empfiehlt sich wieder ein Abstecher in einen Hinterhof: Eine mit Wein bewachsene Fassade, Rosen im Beet und eine Steinterrasse – das Lokal Schreiners hat den vielleicht schönsten Gastgarten Wiens.
In der Westbahnstraße ist die Kulturszene des Siebten angesiedelt. Sie ist Wiens Fotografie-Mekka. 1887 wurde hier die k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren gegründet, später bekannt als „die Graphische“. Auf diesem historischen Boden sind im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Kamerageschäfte und Galerien entstanden. Das Prunkstück unter ihnen ist heute die Galerie WestLicht . Foto-Doyen Peter Coeln gründete in der ehemaligen Glasfabrik 2001 Wiens bekanntesten Standort für Foto-Ausstellungen. Im Umkreis befindet sich mit United Camera Österreichs erster Nikon Flagship-Store. In der Secondhand-Abteilung gibt es ein großes Angebot für Analog-Liebhaber. Dieser Tage startet Geschäftsführer Gerhard Heyduck eine Fotoakademie. Einen anderen Ansatz verfolgt die Galerie Lumina in der Lindengasse. Im etwas versteckten Fotografie-Kulturzentrum kann jeder ausstellen, der möchte. Vereinsmitglied Robert Altermoser steht in der Dunkelkammer, während sein Kumpel, der aussieht wie Jimi Hendrix, im Nebenraum Rahmen für seine Kleinformat-Bilder sägt. Der Drucker, die Dunkelkammer, die Kameras – alles frei benutzbar. „Wichtig ist uns, dass man hier alles vom Foto zum Rahmen zum Passepartout selber erschaffen kann“, sagt Altermoser.
Umdenken ist auch das Konzept der Swing Kitchen . Am Fuß der nahegelegenen Querstraße, der Schottenfeldgasse, starten Irene Schillinger und ihr Mann Karl gerade mit einer veganen Burger-Kette durch. „Vegan ist mehr als ein Trend“, sagt Irene Schillinger. Sie steht im schlicht gehaltenen Hauptquartier ihrer Kette und erzählt vom beginnenden Franchising in Deutschland und der Schweiz. Seit 20 Jahren leben ihr Mann und sie vegan, vor zehn Jahren haben sie begonnen, Pläne zu schmieden. Über den Tischen hängen weiße Glaslampen an langen Kabeln, darunter sitzen die Gäste mit Hockern an Holztischen. Es läuft, so wie immer, Swing-Musik. Der beliebteste Burger ist der Swingburger. Sojapatty, BBQ-Dip, Salat, Tomate, Gewürzgurke, getrocknete Röstzwiebel – was braucht es mehr?
Etwas weiter die Straße rauf lohnt sich ein kurzer Abstecher nach rechts in die Westbahnstraße. Im designqvist verkauft die halbe Schwedin Sandra Nalepka seit fünf Jahren skandinavisches Vintage-Design der Fünfziger und Sechziger. Die Regale sind gefüllt mit Schalen und Gläsern aus Kunstglas, Besteck und vielen Tassen. „Damals gab es eine Design-Hochblüte in Skandinavien. Hierzulande hatte man keine Zeit, um sich über schönen Hausrat Gedanken zu machen“, erklärt Nalepka. Exklusiv ist auch das Geschäft von Brigitte Schmidhuber ums Eck in der Schottenfeldgasse. Das Casa Caria ist gefüllt mit allem aus Italien, was gut ist: raren Früchten wie Bergamotten, reinsortigem Olivenöl, Pasta, Antipasti, Naturweinen. Für die, die nur kosten wollen, gibt es eine Olivenöl-Teststation mit speziell abgedunkelten Gläsern und Grafiken zur Geschmacksanalyse. Riecht es fruchtig wie frisch geschnittenes Gras und zieht scharf den Gaumen hinunter, ist es gutes Öl. Ganz anders zur Sache geht es im Chaya Fuera gleich ums Eck. Tagsüber wirkt der verschlossene Eingang in der Kandlgasse recht unscheinbar, am Wochenende geht hier die Post ab, wenn die beliebtesten Studienrichtungen Wiens den ersten Bezirk hinter sich lassen und unter dem Motto Med & Law die Woche ausklingen lassen.
In der Burggasse stößt man auf den Color Store Somogyi . Roman Somogyi betreibt sein kleines Farbengeschäft schon jahrzehntelang. Hier findet man ihn seit eineinhalb Jahren, hinter einer kleinen Glastüre in der Mitte einer dicken Graffiti-Fassade. Somogyi, ein älterer Herr, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt, ist eine Legende in der Wiener Sprayer-Szene. Die Crew um den Rapper Skero kauft beispielsweise bei ihm ein. Im Raum hinter dem Verkaufstresen hängen Bilder von Kunden, in seinem Keller lagern noch viele mehr.
Am Ende der Halbgasse schließlich noch eine weitere Facette dieses Grätzels: das Kinderbuch-Antiquariat von Christian Haas. Sein kleines Geschäft, das kein Schild hat und eingerichtet ist wie ein einfaches Zimmer, ist ein Schrein der Nostalgie. Im Hinterhof des im 18. Jahrhundert errichteten Hauses steht ein chinesischer Blauglockenbaum, Rosen wandern die Fassade entlang, Säulen tragen den Durchgang. Es ist ein fantasievoller Ort, den man nicht erwartet. Im Laufe der Jahre hat Haas 38.500 Bücher angesammelt. „Ich habe alle Ausgaben von ,Hatschi Bratschis Luftballon‘ seit den Zwanzigern“, sagt Haas. Es gibt wenige Spezialwünsche, die er nicht erfüllen kann. Ein Kunde, der im Gemeindebau aufgewachsen ist, kauft hier beispielsweise Mira-Lobe-Bücher mit dem Stempel der Wiener Kinderfreunde, wie er sie aus seiner Kindheit kennt. Die Lobe-Bücher bekommt Haas hauptsächlich von einem Eisverkäufer aus dem 10. Bezirk. Dort wird er sie nicht los, im Gegenzug nimmt er alle Thomas-Brezina-Bücher von Haas, die dieser wiederum nicht loswird. Bei aller Vielfältigkeit, die sich nicht verallgemeinern lässt, hat Neubau vom Gürtel bis zur Zieglergasse zumindest einen kleinen gemeinsamen Nenner: Thomas Brezina hat es hier schwer.