Wahrheit, nein danke!
Politiker und Medien behaupten, wir leben im „postfaktischen Zeitalter“ der Lügen. Stimmt das?
Illustration: Schorsch Feierfeil
Vergangene Woche trat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vor die Presse, sie wirkte zerknirscht. Nachdem im heißen Herbst 2015 über eine Million Asylwerber nach Deutschland gekommen war, hatte die deutsche Regierung die Asylgesetzgebung verschärft und international Druck aufgebaut, um den Flüchtlingsstrom nach Deutschland zu drosseln. Die Zahl der Asylwerber ist mittlerweile stark gesunken. Trotzdem fordern laut einer Spiegel-Umfrage noch immer 82 Prozent der Wähler, die Flüchtlingspolitik sei „korrekturbedürftig“. Merkel stellte sich vors Mikro und sagte: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“
Postfaktisch! Ein neuer Begriff hat den politischen Diskurs erobert. Erst vergangenen Donnerstag richtete der rote Bundeskanzler Christian Kern seinem schwarzen Regierungsmitglied Andrä Rupprechter über Twitter aus, dieser argumentiere beim Freihandelsabkommen CETA „postfaktisch“. Der britische Economist widmete dem „postfaktischen Zeitalter“ jüngst eine Covergeschichte, die Schweizer NZZ koppelt sie mit der Wortkreation „Nichtwissenwollengesellschaft“, der deutsche Spiegel zieht bereits Parallelen zur Paranoia der Jakobiner und des hohen Adels nach der Französischen Revolution.